Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
stattete dem Intranet der Zentralkripo einen Besuch ab, dann zog ich den Mantel an. Im Menschengewimmel am Bahnhof würde ich gefahrlos telefonieren können, nachdem ich am Kiosk einen neuen Prepaid-Anschluss gekauft hatte. Eva Stahls Stimme hallte mir in den Ohren nach, als ich den Durchgang betrat, der am Amos-Andersson-Kunstmuseum vorbeiführte. Die Stahls hatten ihren Sohn nach einem biblischen Helden, nach einem weisen König benannt, doch ihr Sprössling trug bereits mehrere Kainsmale. Ich erinnerte mich an den verzweifelten Blick der David-Statue. Wie gern hätte ich mich mit dem Gedanken getröstet, dass auch David Stahl nur getan hatte, was unvermeidbar war, dass er sein Los nicht selbst gewählt hatte. Doch daran konnte ich nicht glauben.
Am Kiosk musste ich anstehen, aber das Gedränge war mir willkommen, denn das Stimmengewirr gab mir Schutz. Es dauerte eine halbe Minute, bis sich Rytkönen meldete. Heiser und undeutlich sagte ich:
«Hallo, Kass. Ich glaube, wir sollten uns treffen.»
17
Natürlich würde ich mich nicht in meiner eigenen Gestalt mit Rytkönen treffen, so verrückt war ich nun doch nicht. Es war an der Zeit, Reiska Räsänen aus dem Schrank zu holen. Ich wusste, dass ich ein irrsinniges Risiko einging, doch dazu war ich bereit. Aber um mir Rückendeckung zu verschaffen, vereinbarte ich das Treffen mit Rytkönen erst für den kommenden Sonntag um elf Uhr nachts.
Auch Rytkönen war kein Vollidiot. Natürlich wollte er wissen, woher ich seine Nummer hatte, in welcher Beziehung ich zu David Stahl stand und wieso ich seinen Decknamen Kass kannte. Bei unserem Treffen würde ich es ihm erzählen, versprach ich. Ich hatte lange über den geeigneten Ort nachgedacht. Für Reiska wäre es von Vorteil, wenn der Treffpunkt nicht hell erleuchtet war. Schließlich schlug ich die Ouri-Inseln am Ufer von Hietaniemi vor. In einer Sonntagnacht im November würden dort wohl nicht allzu viele Leute herumlaufen.
Meines Wissens hatte Rytkönen mich nur einmal zu Gesicht bekommen, bei unserer kurzen Begegnung in Laitios Wohnung. Aber wahrscheinlich hatte er sich Fotos und vielleicht auch Videoaufzeichnungen angesehen, meine Bewegungen und die Länge meiner Schritte studiert. Das hätte ich an seiner Stelle jedenfalls getan, um mich darin zu üben, jemanden wiederzuerkennen.
Ich begann unverzüglich mit den Vorbereitungen. In den frühen Morgenstunden und spätnachts, wenn Monika schlief, erweckte ich Reiska zum Leben. Monika war ihm nie begegnet, und ich wollte ihr auch keine Erklärungen abgeben müssen. Rauchen konnte ich in unserer Wohnung nicht. Vielleicht würde Reiska diesmal erst zur Zigarette greifen, wenn Rytkönen vor ihm stand.
Noch einmal ging ich die Dateien der Zentralkripo durch. Martti Tapani Rytkönen war Jurist aus Iisalmi. Er würde Reiskas Dialekt sofort erkennen. Möglicherweise entstand aus der gemeinsamen ostfinnischen Herkunft sogar eine Art Verbindung zwischen den beiden, doch sie würde Rytkönen sicher nicht veranlassen, mit Reiska über Stahl zu sprechen.
Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass Rytkönen wirklich Davids Vertrauensmann war und alles über mich wusste, auch, dass ich mich gelegentlich als Mann verkleidete und unter dem Namen Reiska Räsänen auftrat. Aber in diesem Fall würde mir nichts passieren, wenn er mich entlarvte.
Auf der Webseite des Klosters Sant’Antimo fand ich die Kontaktdaten von Bruder Gianni alias Jaan Rand. Ich überlegte, ob es zu riskant war, ihm eine E-Mail zu schicken, und entschied mich dafür, es zu wagen. Wenn David mich betrog, hatte ich keinen Grund, ihn zu schützen. Und wenn ich auf Finnisch schrieb, konnte keiner der anderen Mönche meine Nachricht verstehen. Die Webseite war zwar modern, aber ich vermochte mir nicht recht vorzustellen, dass alle Mönche einen eigenen Computer in ihrer Zelle hatten.
«Lieber Bruder Gianni oder Jaan Rand. Du hast wohl vergessen, mir zu erzählen, dass David nur zwei Wochen vor meiner Italienreise in Finnland war. Auch David hat es mir verheimlicht, aber ich habe es auf eigene Faust herausgefunden. Er ist nicht so perfekt, wie er glaubt.
Ich habe mit Davids Mutter gesprochen. Offenbar hattest du einen guten Grund, ins Kloster zu gehen. Hatte dieser Entschluss irgendetwas mit David zu tun?
Gruß, Hilja Ilveskero».
Als ich am Donnerstag mit Monika im Lieferwagen zur Arbeit fuhr, regnete es in Strömen. Im Restaurant war nach dem Abklingen der Grippewelle wieder Routine eingekehrt. Auf
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