Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
gehabt, aber ich hatte seinen Europol-Ausweis gesehen und wusste, dass seine Haare auf dem Ausweisfoto blond und streichholzkurz waren.
Tiina Mäkelä warf nur einen kurzen Blick auf das Foto. «Das ist er. Und du hast recht, er hieß Stahl. Auf diesem Bild sieht er allerdings weniger furchteinflößend aus als in natura. Er hat es fertiggebracht, dass ich mich irgendwie an Annelis Tod schuldig fühlte. Aber ich sage auch dir ganz offen, dass ich Keijo nicht leiden konnte und dass sich unser Verhältnis deswegen abgekühlt hatte. Anneli ist wegen Keijo nach Lappeenranta gezogen und hat ihr Studium abgebrochen, als du zur Welt kamst. Sie sagte, sie würde später weiterstudieren, auch wenn Keijo das nicht wollte.»
Obwohl die Erinnerungen an meine Mutter mich natürlich interessierten, unterbrach ich Tiina Mäkelä und fragte nach dem genauen Datum von Davids Besuch. Sie holte einen dicken Terminkalender. Es war am dreiundzwanzigsten März gewesen, nur etwa zwei Wochen vor meiner Reise in die Toskana. Mir hatte David erzählt, er sei seit Februar in Italien gewesen.
Meine Zeit war um, ich musste ins Sans Nom zurückkehren. Tiina Mäkelä fragte, wann wir uns noch einmal treffen könnten, sie würde Annelis Tochter gern näher kennenlernen. Ich wollte ihr nichts versprechen. Ich fühlte mich so gedemütigt und war so wütend auf David, dass ich beschloss, den Rubinring ins Meer zu werfen und alle Fotos von David zu zerreißen, sobald ich dazu kam.
Erst anderthalb Wochen später, an einem Montag, konnte ich mir einen Tag freinehmen. Der vorige Ruhetag war dafür draufgegangen, zu putzen und vorzukochen, denn mit dezimierter Belegschaft war es schwierig, den Betrieb reibungslos laufen zu lassen. Es war inzwischen November geworden, und die Welt erschien mir immer düsterer. Ich hatte immer gemeint, Helsinki sei eine gut beleuchtete Stadt, doch nun hatte ich den Eindruck, überall dunkle Winkel zu sehen, und die Dunkelheit raubte mir alle Kraft. Dagegen schien nichts zu helfen, weder ausgedehntes Joggen noch dunkle Schokolade oder Vitamintabletten. Trankow rief zweimal im Restaurant an und erkundigte sich, wann wir unsere künstlerische Arbeit endlich fortsetzen könnten, nahm es aber überraschend fügsam hin, als ich sagte, ich sei im Sans Nom voll eingespannt. Beim zweiten Gespräch stellte sich heraus, dass auch er beschäftigt war, er musste mit Syrjänen nach Moskau reisen. Er sagte, er wisse noch nicht, wie lange sie dort bleiben würden, werde mich aber nach seiner Rückkehr anrufen. Danach hatte ich das Gefühl, von einer drückenden Last befreit zu sein. Trankow hatte offenbar schon genug von mir.
Um sechs Uhr am Montagabend erlag ich der Versuchung. Ich rief die Auskunft an und bekam die Telefonnummer von Anton Stahl in Tartu; die anderen Familienmitglieder waren nicht verzeichnet. Ich ließ mir auch die Adresse geben. David hatte erzählt, seine Familie wohne im Zentrum, in der Nähe des Parks am alten Wallgraben. Im Internet fand ich einen Stadtplan, der mir bestätigte, dass die Adresse übereinstimmte. Während unseres Aufenthalts in Montemassi hatte David gesagt, er wolle mich seiner Familie vorstellen, sobald es ihm möglich war, wieder nach Estland zu reisen. Ich hatte geglaubt, er meine es ernst.
Ich spähte aus meinem Zimmer. Was tat Monika wohl gerade? An ihren freien Abenden meditierte sie meist, und dann sah und hörte sie nichts. Dennoch schloss ich alle Türen. Nicht einmal Monika sollte wissen, wie gierig ich nach der kleinsten Information über David lechzte.
Stell dich darauf ein, zu hören, dass David tot ist. Oder bei seiner Frau in Tartu. Oder in einem weißrussischen Gefängnis. Sei auf alles gefasst, sagte ich mir, während ich zuerst die Auslandsvorwahl eingab, dann die estnische und schließlich die Nummer der Stahls. Ein Handy war auf ihren Namen nicht registriert.
«Eva Stahl», meldete sich eine Frau. Im Hintergrund dröhnte ein Fernseher, ich hörte eine aufgeregte Männerstimme, die klang wie die eines Sportkommentators.
«Sind Sie die Mutter von David Stahl?», fragte ich auf Schwedisch, in Evas Muttersprache.
«Wer fragt?» Die Stimme der Frau war schlagartig misstrauisch geworden. Sie zischte etwas auf Estnisch, und gleich darauf wurde der Fernseher leiser gestellt. Eva Stahl war also nicht allein zu Hause.
«Ich bin Hilja, eine Freundin von David.» Im vorigen Herbst hatte David seine Eltern besucht. Nun würde ich erfahren, ob er ihnen bei der Gelegenheit von mir
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