Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Veikko einen Bypass gelegt und wollte ihn nun zur Genesung ins Alkoholikersanatorium nach Ridasjärvi bringen.
«Er war leicht in Panik, schließlich ist er an Freiheit gewöhnt. Allerdings sagt er, im Sanatorium habe er mit Ripa viele Winter verbracht, und im Sommer wären sie dann wieder nach Helsinki gekommen, um am Meer zu sitzen und zu trinken. Auf diese Art von Sommerfrische wird Veikko wohl von nun an verzichten müssen.»
Ich hatte nie eine romantisierende Vorstellung vom Leben obdachloser Alkoholiker gehabt. Bei meiner Arbeit als Wächterin hatte ich zur Genüge miterlebt, wie sie sich von einem Schnaps zum nächsten hangelten. Manche meiner Kollegen hatten die Säufer nicht einmal als Menschen betrachtet, sondern jede Gelegenheit genutzt, sie zu demütigen und zu piesacken. Kein Penner würde sich jemals bei der Polizei beschweren. Doch während der Renovierungsarbeiten im Sommer hatte ich das Treiben der beiden Männer beobachtet, und nun war es ein merkwürdiges Gefühl, nicht mehr zu sehen, wie sie aus der Zeitungskiste lugten oder trinkend am Ufer saßen. Mit Ripas Obduktion würde man es vermutlich nicht eilig haben, denn die Todesursache schien auf der Hand zu liegen. Vielleicht warteten nur zwei Menschen wirklich auf das Ergebnis: ich, die ich den Verdacht hatte, dass ein Verbrechen geschehen war, und der Täter, der darauf hoffte, dass man dem Spender oder Verkäufer des vergifteten Fusels nie auf die Spur kommen würde.
Ich bereitete mich den Rest der Woche auf meine Rolle als Reiska vor. Zum Glück kam Petter auf die Idee, seine Schwester für die Nacht zu Montag in das Wellness-Hotel Haikko einzuladen. Er sagte, Monika arbeite zu viel und müsse sich einmal verwöhnen lassen. So war ich am Sonntagabend allein zu Hause und konnte mich ungestört in Reiska verwandeln. Auf dem Weg zu den Ouri-Inseln würde ich noch rasch ein paar Zigaretten rauchen, die Reiska seinen typischen Geruch gaben.
Reiska hatte nie nach Aufmerksamkeit gegiert. Er kleidete sich meist wie ein Durchschnittsfinne, nur das T-Shirt mit dem Aufdruck «Danke 1939 – 1945 », das er bisweilen trug, provozierte Kommentare. Jetzt war es zu kalt dafür, ich ließ es zu Hause. Unter die Jeans zog ich eine lange Unterhose, deren entscheidende Stelle ich mit einem kleinen Lockenwickler aus Schaumgummi polsterte. Die abgetretenen Springerstiefel waren mir eine Nummer zu groß, aber mit dicken Wollsocken saßen sie fest genug am Fuß. Unter dem braunen Lederblouson trug ich ein kariertes Hemd und einen Pullover aus dem Kaufhaus. Ich schwankte lange zwischen Baseballkappe und Wollmütze, bevor ich mich für die Kappe entschied, deren Schirm meine Augen verdeckte.
Im Gegensatz zu Hilja Ilveskero besaß Reiska Räsänen keinen Waffenschein, folglich musste ich meine Waffe zu Hause lassen. Als Polizist würde Rytkönen ohnehin keine Schießerei anzetteln. Reiskas Brieftasche war diesmal nicht prall gefüllt. Sie enthielt einen uralten Leserausweis der Bibliothek von Kaavi, den selbst ein Grundschüler hätte fälschen können, ein paar Visitenkarten und ein altes Foto, das ich zufällig auf einem Flohmarkt entdeckt hatte. Es war Anfang der 1980 er Jahre gemacht worden, und der Mann mit dem Schnurrbart, der einen kleinen Jungen in einem bunten Strampelanzug in den Armen schaukelte, hätte ohne weiteres Reiskas Vater sein können. Als Mann sah ich einige Jahre jünger aus als in meiner eigenen Gestalt; das musste Reiska beachten, wenn er sich an Kneipengesprächen über die Erfolge finnischer Sportler beteiligte, etwa über die Eishockey-Weltmeisterschaft oder über Mika Häkkinens Siege in der Formel 1 .
Ich war so außer Übung, dass ich unerhört lange brauchte, um den Schnurrbart anzukleben. Den Bart hatte ich von einem New Yorker Kostümbilder anfertigen lassen, der mich gefragt hatte, welche Farbe die Körperhaare meines Vaters hatten. Ich hatte ihm nur sagen können, dass sein Haupthaar hellbraun war. Meiner Erinnerung nach hatte ich Keijo Suurluoto nie mit Bart gesehen, und ich hatte keine Ahnung, ob seine Bein- und Achselhaare dick und schwarz waren oder durchscheinend zart wie bei Onkel Jari. Im Grunde war ich froh über diese Wissenslücke. Reiskas Schnurrbart war ein wenig heller als die Perücke, die er auf dem Kopf trug. Es war nur von Vorteil, wenn unter der Schirmmütze nicht meine eigenen Haare vorschauten.
Als mittelgroßer Mann fiel ich weniger auf als in meiner eigenen Gestalt als hochgewachsene Frau. Dafür lief ich
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