Der Löwe
jederzeit die Kluft zwischen den Arten überbrücken. Außerdem verstand er Englisch.
Die Aufzugtür öffnete sich, und sie führte in einen Vorraum, der ganz ähnlich war wie der darunter, einschließlich einer
weiteren Überwachungskamera. Aber dieser Raum hatte eine zweite Stahltür – diesmal mit einem Guckloch und einer aufschiebbaren Durchreiche, wie bei einer Zellentür.
Viktor drückte auf einen Knopf, und ein paar Sekunden später hörte ich, wie Riegel zurückgeschoben wurden, dann öffnete sich die Tür.
Dort stand Boris, der zu mir sagte: »Es ist so schön, Sie lebend zu sehen.«
»Gleichfalls.«
38
B oris winkte mich zu einem schweren Polstersessel und setzte sich auf einen ähnlichen Sessel mir gegenüber. Er trug einen schwarzen Anzug nach europäischem Schnitt und ein Seidenhemd mit offenem Kragen. Wie ich hatte er eine Rolex am Handgelenk, aber ich vermutete, dass seine mehr als vierzig Dollar gekostet hatte. Er sah aus, als wäre er immer noch ganz anständig in Form, aber nicht mehr so rank und stramm, wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Viktor blieb im Zimmer und nahm eine Cocktailbestellung vom Boss entgegen – eine Flasche eisgekühlten Wodka.
Boris goss zwei Kristallgläser ein, hob seines und sagte: »Gesundheit. «
»Na zdorov’e«, erwiderte ich, was, glaube ich, so viel wie »Gesundheit« heißt – oder heißt es »Ich liebe dich«?
Jedenfalls war der Wodka, dessen Marke in kyrillischer Schrift auf dem Etikett stand, weitgereist.
Boris wartete darauf, dass ich etwas sagte – zum Beispiel, warum ich hier war –, aber ich mag ein paar Minuten wohltuenden Schweigens, was den anderen manchmal aus dem Konzept bringt, während er über den unangekündigten Besuch eines Cops nachdenkt. Außerdem war Viktor noch da, und Boris musste ihn wegschicken. Aber Boris war ein cooler Typ, der sich von der Stille nicht beunruhigen ließ. Er trank einen Schluck Wodka und zündete sich eine Zigarette an – immer noch Marlboro –, ohne mich zu fragen, ob ich etwas dagegen hätte, und ohne mir eine anzubieten.
Gehen also zwei Russen in eine Bar, bestellen sich eine Flasche Wodka und sitzen eine Stunde lang da und trinken, ohne ein Wort zu sagen. Dann sagt der eine von ihnen: »Guter Wodka.« Worauf der andere sagt: »Bist du hergekommen, um zu trinken oder um zu quasseln?«
Ich blickte mich in dem großen, fensterlosen Raum um, der eher an ein Wohnzimmer erinnerte als an ein Büro. Auf dem Parkettboden lagen Orientteppiche, und die ganze Hütte war voller russischem Zeug – vielleicht Antiquitäten –, darunter Ikonen, ein Porzellanherd, ein silberner Samowar, bemalte Möbel und allerhand russische Nippes. Es wirkte sehr heimelig, wie Großmutters Wohnzimmer, falls die Großmutter Svetlana hieß.
Boris bemerkte mein Interesse an seiner Bude und sagte: »Das ist mein Arbeitsapartment.«
Ich nickte.
Er deutete auf eine Doppeltür und sagte: »Ich habe dahinter ein Büro und auch ein Schlafzimmer.«
Bei mir an der East 72 nd Street war es genauso, und wir mussten uns beide eine Weile in unseren Arbeitsapartments verkriechen, aber das wusste Boris noch nicht.
Wie schon gesagt, sein Englisch war nahezu perfekt, und ich bin mir sicher, dass er seit unserem letzten Treffen einen Haufen neuer Wörter gelernt hatte – zum Beispiel »Profit«, »Verlusterklärung«, »Arbeitskapital« und so weiter und so fort.
Boris, dessen bin ich mir sicher, war es nicht gewöhnt, zum Narren gehalten zu werden, deshalb sagte er zu mir: »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben. Ich habe unser Gespräch genossen. « Er sagte etwas zu Viktor, der zur Tür ging, sie aber erst öffnete, nachdem er durch das Guckloch geschaut hatte. Vielleicht war das die übliche Vorsichtsmaßnahme in einem russischen Nachtclub. Oder Paranoia. Oder irgendwas anderes.
Boris stand auf und sagte zu mir: »Ich bin heute Abend ziemlich beschäftigt.«
Ich blieb sitzen und erwiderte: »Viktor kann gehen.«
»Er kann kein Englisch«, erklärte mir Boris.
»Das ist kein guter Zeitpunkt, dass er es lernt.«
Boris zögerte, dann sagte er zu Viktor, er solle die Biege machen, was auf Russisch ein Wort ist.
Viktor ging, und Boris verriegelte die Tür.
Ich stand auf, blickte durch den Einwegspiegel, der die Hälfte der Wand einnahm, und hatte einen weiten Blick auf das darunterliegende Restaurant und die Bar hinter der Mattglaswand. Veronika war noch da. An der gegenüberliegenden Wand des Restaurants, über dem Pult des
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