Der Lüster - Roman
verharrte Virgínia eine vage Sekunde lang am Fenster und lauschte mit irgendeinem Punkt ihres Körpers in den Raum dort vorne. Sie schwankte zwischen Enttäuschung und einem schwierigen Zauber – wie eine Wahnsinnige log die Nacht am Tag …
Wie eine Wahnsinnige log die Nacht am Tag, wie eine Wahnsinnige log die Nacht am Tag – ging sie barfuß die staubigen Treppenstufen hinunter, die Schritte gedämpft vom Samt. Die Familie setzte sich zum Frühstück, und wenn Virgínia nicht genug aß, bekam sie auf der Stelle eine Ohrfeige – war das gut, rasch flog die offene Hand und traf mit einem fröhlichen Klatschen auf eine der Wangen, erfrischte den düsteren Raum mit der Feinheit eines Niesens. Das Gesicht erwachte wie ein Ameisenhaufen in der Sonne, und dann bat sie um mehr Maisbrot, voller erlogenem Hunger. Der Vater kaute weiter, die Lippen feucht von Milch, während mit dem Wind eine gewisse Freude in der Luft hing; ein frisches Geräusch aus dem hinteren Teil des Hauses füllte sachte das Esszimmer. Esmeralda aber kam immer davon, den Rücken gerade, die Brust vorgestreckt. Denn die Mutter erhob sich blass und stotternd und sagte – während kalter Zug durch die helle Fensteröffnung drang und beim Blick auf Daniels hartes, geliebtes Gesicht ein Wunsch, mit ihm zu fliehen und zu rennen, Virgínia das Herz weitete, benommen und schwerelos, in einem Impuls nach vorn –, während die Mutter sagte:
»Habe ich nicht mal das Recht auf einen Sohn?«
Auf eine Tochter, sollte sie sagen, dachte Virgínia, ohne die Augen von der Tasse zu heben, denn in diesen Momenten hatte selbst das Wiehern eines Pferdes auf der Weide etwas Schneidendes, wie ein trauriges und nachdenkliches Wagnis. Esmeralda und die Mutter unterhielten sich dann lange im Zimmer, die Augen glänzend in schnellem Verstehen. Ein ums andere Mal arbeiteten die beiden am Zuschnitt eines Kleids, als forderten sie die Welt heraus. Der Vater sprach niemals mit Esmeralda, und keiner erwähnte, was mit ihr war, es sei denn ganz beiläufig. Auch Virgínia hatte nie danach gefragt; sie konnte wohl mit einem nicht offenbarten Geheimnis in Händen leben, ohne sich zu beunruhigen, so als wäre dies das wahre Leben der Dinge. Esmeralda hob den Saum des langen Rocks, den sie zu Hause trug, ging die Treppe hoch, verbrannte oben bei sich einen ärgerlichen Duft, eindringlich und feierlich; man hielt es in ihrem Zimmer nur wenige Minuten lang aus, dann wurde einem der Geruch zu viel und man fühlte sich schwummerig, eine Übelkeit wie in der Kirche. Sie selbst aber verharrte gedankenversunken vor der Kalebasse, die ihr als Behältnis dafür diente, und schien die heiße Flamme einzuatmen mit ihren starken, weiblichen und heuchlerischen Augen. All ihre Unterwäsche war handgestickt; der Vater sah Esmeralda nicht an, so als wäre sie tot. Das letzte Mal hatte er sie an dem Tag gestreift, als es wieder einmal um Daniels und Virgínias Umzug in die Stadt ging, wo sie eines Tages Sprachen und Wirtschaft studieren und Klavierspielen lernen sollten – Daniel, der so ein gutes Gehör hatte und manchmal auf einem Klavier in Brejo Alto übte. Mit der anderen Tochter, sagte der Vater, habe er nichts dergleichen vor: »Ein wildes Tier lässt man erst aus dem Haus, wenn es keine Zähne mehr hat.« Esmeralda setzte sich bei den Mahlzeiten neben die Mutter; sie kam immer ein wenig verspätet und langsam dazu, aber der Vater sagte nichts. Vielleicht tauchte sie auch blass und mit Augenringen auf, weil sie bei irgendeiner Familie aus Brejo Alto zum Tanz gewesen war. Die Mutter kam dann erholt von ihrer Müdigkeit herunter, in körperlicher Unruhe, so aufgeregt war sie darüber, dass man nun wieder an Festen teilnahm. Ihre Augen bekamen einen abwesenden Ausdruck, und sie sah den Salon vor sich, während sie kaute. Sanft und glänzend verteilten sich die jungen Mädchen wieder über die Veranden, über das Gesellschaftszimmer, in ruhigen und beherrschten Posen, und warteten darauf, umfasst zu werden; dann tanzten sie, die Gesichter beinahe ernst; die Unmoralischsten unter ihnen streckten unschuldig die Brust vor, ganz frisiert und zufrieden, in den Augen einen einzigen unlesbaren Gedanken; aber die Männer waren wie immer unterlegen, blass und galant; sie schwitzten stark; da sie nicht sehr zahlreich waren, tanzten am Ende einige junge Frauen miteinander, aufgekratzt, lachend, hüpfend, Überraschung in den Augen. Sie kaute, mit festem Blick, und dabei spürte sie die
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