Der Lüster - Roman
auch sein eigenes Gegenteil zu sein. Was sie selbst betraf, so konnte sie nicht einmal erraten, was sie vermochte und was nicht, was sie schon mit einem Wimpernschlag bekommen und was sie niemals erreichen würde, selbst wenn sie dafür ihr Leben gab. Sich aber gestand sie das Vorrecht zu, auf Gesten und Worte zu verzichten, wenn sie sich offenbaren wollte. Sie spürte, dass sie auch ohne einen Gedanken, einen Wunsch oder eine Erinnerung auf unfassbare Weise war, was sie war, und woraus es bestand, wusste Gott allein.
Die Tage auf Granja Quieta atmeten weit und leer wie das Anwesen selbst. Die Familie empfing niemals mehrere Gäste zugleich. Bei seltenen Gelegenheiten wurde die Mutter durch den Besuch zweier Nachbarinnen aufgemuntert, die sie rasch in ihr Zimmer führte, als wollte sie sie vor den langen Korridoren bewahren. Und Esmeralda erstrahlte in Aufregung und einer gewissen Rohheit, wenn ihre Freundinnen zu ihr kamen, blass und hochgewachsen unter maisfarbenen Hüten. Dann schlüpfte sie rasch in ein Paar Schuhe, ging mit den Besucherinnen errötend auf ihr Zimmer und schloss hinter sich ab, und die Zeit lief dahin. Und manchmal kam aus dem Süden ein Verwandter väterlicherseits, um die Großmutter und den Vater zu besuchen. Der Onkel setzte sich an den Tisch, lächelte alle aus seiner Taubheit heraus an und aß. Und auch Tante Margarida, dünn, schlaffhäutig, das Gesicht scharf wie das eines ausgetrockneten Vogels, die Lippen allerdings stets rosig und feucht wie Leber; an einem einzigen Finger trug sie ihre beiden Witwenringe, dazu drei weitere, mit Edelsteinen besetzte. Der Vater wirkte an diesen Tagen wie neugeboren, und Virgínia sah ihm erschrocken zu, mit unruhigem Widerwillen. Er bestand darauf, persönlich aufzutragen, gab der schwarzen Köchin frei – Virgínia beobachtete ihn aufgeregt und stumm, den Mund wässrig vor Unwohlsein und Aufmerksamkeit. Mit nassen Augen führte er die Großmutter an den Tisch und sagte:
»Die Herrin des Hauses muss doch mit ihren Kindern essen, die Herrin des Hauses muss doch mit ihren Kindern essen …« Und man merkte kaum, dass das ein Scherz sein sollte. Tante Margaridas Blick war eilig, und in dem Sekundenbruchteil, den er auf etwas verweilte, schien sie zu lächeln. War er jedoch vorbei und ihr Gesicht bereits zur anderen Seite gewandt, so schwebte in der Luft etwas wie das Danach einer sich enthüllenden Angst. Mit ihrem Vogelköpfchen samt den gekämmten Federn, schief zum Teller sitzend, aß sie fast ohne Worte. Man sah, dass sie eines Tages sterben würde, man sah das. Der Onkel sagte mit tiefer und ruhiger Miene:
»Mensch, schmeckt das gut.«
»Nimm dir noch!«, rief der Vater und blinzelte vor Freude.
Der Onkel sah dem Vater gerade in die Augen, mit einem unbeweglichen Lächeln. Dann knetete er aus Brotkrumen eine kleine Kugel und antwortete feinsinnig und bieder, als müsste er seine eigene Taubheit besänftigen:
»Na dann, na dann.«
Einen Moment lang war im Blick des Vaters Erstaunen zu sehen, Überforderung. Unvermittelt packte er den Teller des Bruders, lud ihm Essen auf und schob ihm den Teller wieder hin, gerührt und zufrieden:
»Da, nun iss schon.«
Der Onkel dankte beiläufig, indem er die Hand zum Kopf führte wie ein grüßender Soldat. Der Vater sah ihm zu, die Arme hängend wie bei einer Puppe, und gab sich übertrieben glücklich.
»Ach, man hat’s nicht leicht, wirklich nicht leicht«, sagte er und lachte herzhaft.
Wenn die Besucher nach einigen Tagen abreisten, wurde das Leben im Haus erneut von der Landluft aufgesogen, und die Fliegen summten höher, schimmernd im Licht. Der Vater nahm seine Einsamkeit wieder auf, in der nichts Trauriges lag, schob Tischdecke und Besteck beiseite, rückte sich eine Öllampe heran, las Zeitung und öffnete nie das Buch. Dann ging er nach oben, um sich schlafen zu legen, stieg langsam und schwer die Treppe hoch, als wollte er das Wiehern der Stufen hören, eine dunkle, ruhige Hoffnung, fast wunschlos. Manchmal, in aufgekrempelten langen Unterhosen – er verwandelte sich dann unvermittelt in einen lustigen Mann, und Virgínia fiel an diesen Tagen das Einschlafen schwer –, manchmal also lebte er in aufgekrempelten langen Unterhosen vor sich hin, blieb bis zwei oder drei Uhr morgens wach und sah zu, wie das Geflügel die kleinen, kleinen Eier legte. Mit Hühnerkot verschmiert stieg er anschließend in einen Bottich voller Wasser und Kerosin, der draußen auf dem Hof stand, und säuberte sich
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