Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
Vom Netzwerk:
wo die Leute in den schwersten Momenten aufwachten und möglicherweise auch litten, einen Ort, wohin man sich erschrocken wandte nach dem Rausch, wohin man zurückkehrte nach der Erfahrung des Lachens, wenn man einmal versucht hatte, die Grenze der möglichen Welt zu überschreiten – es war ihr, ihr, ihr Zuhause. Sie trocknete sich die Augen, versuchte, sich mit zitternden, so schwachen Händen die Erde von den Füßen zu streifen, zog die Schuhe an, stand auf. Auf den hohen Absätzen stehend, fand sie ein halbwegs vertrautes Gefühl wieder, erfuhr eine gewisse Sicherheit, sie strich sich mit schmutzigen Händen übers Gesicht, um den Ausdruck der Tränen zu löschen, hob den Rock, putzte sich noch einmal die geschwollene Nase. Während sie auf das Haus zuging, wollte sie einen Gedanken fassen, der für die vage Erlösung danken könnte, die sie in der Brust spürte, und sie hielt inne, schaute auf die weißen alten Wände, die in Schatten und Stille getaucht waren, die Fenster blinkten erleuchtet. Sie würde auf Granja Quieta wohnen, dachte sie da in einem Anfang, und ihr schien, dass sie vielleicht ihr ganzes Leben auf der Suche nach diesem Gedanken gewesen war, so wie manche sich ihr Leben lang durch die Verwirrung hindurch der Liebe zuneigten, dem Ruhm oder sich selbst. Sie lächelte, biss sich auf die Lippen vor Scham und Stolz, schon wieder zu lachen – das ganze Leben auf der Granja leben –, für einen Augenblick bebte sie selbst in ihrem Lächeln mit einer ungemischten Freude, für einen schnellen Augenblick. Rasch ging sie zur Treppe, ohne die Familie anzusehen, die schon bei Tisch saß:
    »Bin gleich wieder da …«
    Sie wusch sich das Gesicht, die Füße, die Hände, behandelte die Kratzer an ihrem Körper mit Jod. Sie befeuchtete ihr Haar, kämmte es so glatt sie konnte, hin und wieder ein kleines Aufschluchzen, wenn die Erinnerung aufschien. Sie sah sich im Spiegel an – unter dem trüben, schwindeligen Licht wirkte das Gesicht groß, frisch, aufgegangen und glänzend, die dunklen Augen waren feucht und eindringlich, sie erinnerte an eine gewaltige Blume, offen im Wasser – als sie die Treppe hinunterging, fühlte sie sich außerordentlich jung und zitterig. Die anderen saßen beim Essen, keiner stellte ihr Fragen; schließlich war es gerade erst dunkel geworden, und sie war rechtzeitig heimgekommen. Sie häufte sich schwarze Bohnen, Erbsen, Fleisch, Reis und Maiskuchen auf den Teller, fing an, langsam zu essen, peinlich genau alles zu essen, schuldig und glücklich, das eine oder andere Schluchzen unterdrückend. Das schwarze Feld kam ihr machtlos vor, sie erinnerte sich immer wieder an die beinahe verrückte Lust, die sie auf der Wiese empfunden hatte, aber sie dachte daran mit Ekel und Schrecken, mit Hass und Flucht, wie an etwas, das so sehr, so sehr geschadet hatte, wie an ein Laster, sie, die verstoßen war aus der Lust, sie, die verstoßen war aus dem Paradies. Die Mutter sagte:
    »Kartoffeln?«
    Sie hielt ihr folgsam den Teller hin und nahm die Kartoffeln entgegen. Die Mutter sah sie an, billigend und streng:
    »Als Kind hast du oft von deinem Vater ein paar Ohrfeigen bekommen, damit du Kartoffeln isst.«
    Virgínia lachte und spürte dabei, wie ihre Augen glänzten, feucht und zögernd, ihr eigenes Bild vor sich.
    »Bist du erkältet«, fragte die Alte.
    »Ich weiß nicht, Mama …«
    »Nimm etwas Sirup, bevor du schlafen gehst … Esmeralda hat welchen auf dem Zimmer.« Sie warf Esmeralda einen zarten, langsamen Blick zu, sie würde immer ihre Lieblingstochter sein.
    »Komm zu mir, bevor du schlafen gehst«, sagte Esmeralda.
    Sie wirkte müde und schlaff.
    »Und was ist mit dir?«, fragte Virgínia.
    »Nichts …«, erwiderte die andere. »Ich bin schon so aufgewacht. Dabei habe ich eigentlich gut geschlafen.«
    »Aber wie fühlst du dich?«
    »Ich weiß nicht, habe ich doch schon gesagt!«, fuhr Esmeralda auf, »lass mich in Ruhe.«
    Der Vater aß, die Brille auf der Stirn, den Blick fest auf dem Teller. Daniel schnitt das Fleisch, steckte es sich in den Mund und beugte sich dann wieder über die zusammengefaltete Zeitung.
    »Ich weiß nicht, wie du bei so einem Licht lesen kannst«, sagte Virgínia – jeden Einzelnen wollte sie mit einem Wort berühren.
    Er hob rasch den Kopf, belästigt, zerstreut. Er sagte: »Ja …«, wandte sich wieder der Lektüre zu, das Gesicht nach unten, kauend.
    »Papa, möchtest du noch Mais?«, fragte sie und errötete. Denn ihr fiel sogleich

Weitere Kostenlose Bücher