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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Schatten, die festgetretene, lehmige Erde. Sie ging, nun schon zerstreut, weiter, die nackten Füße knirschten im warmen Staub des Spätnachmittags. Sie lief, sie lief. Einmal hob sie den Blick, und da öffneten sich die Augen und füllten sich mit süßer, feuchter Überraschung … Denn aus dem Halbdunkel, in dem sie sich befanden, sprossen sie ins Wassergrün einer weiten Ebene mit offenen Armen, und aus dem traurigen Gewirr der verschlungenen Zweige über dem Weg schwebten sie jetzt in langgezogenen Lichtfäden, ausgedehnt, gelassen, fast kalt … fröhlich. Es war eine Hochebene aus freiem grünem Land, offen über das hinaus, was ihr Blick fassen konnte. Von dem niedrigen Weg aus, auf dem sie stehengeblieben war, sah Virgínia am Anfang einer Schlucht den einen oder anderen hohen Halm im Wind zittern bei der Begegnung mit dem Himmel, fast verschmelzend von dessen Leuchten ohne Farbe. Und diese senkrechten, blassen Striche waren so fein, ihr Rhythmus so schnell und leicht unter dem Wind, dass Virgínias Augen, geblendet vom Licht, sie zeitweise nicht mehr sehen konnten, sondern sie nur noch spürten, als zartes Beben in der Luft. Wie hatte sie die Hochebene vergessen können, wie hatte sie vergessen können … So machte sie sich Vorhaltungen und wiegte dabei den Kopf hin und her. Sie ließ die Liane los, die ihre Finger zerfasert hatten, und wartete, die Augen vage und angespannt. Nach und nach senkte sich Stille über den Widerhall ihrer letzten Schritte, und es erhob sich eine gewisperte Ruhe. Sie wusste nicht, wozu sie da stand und wartete, und so zögerte sie. Auch diese schlaffe Nachlässigkeit im Herzen kannte sie nicht, ein mehrfaches Fallen, weich und aufeinanderfolgend bis in ein ruhiges Dahinschwinden, ähnlich dem des Tageslichts. So verharrte sie, befremdet die Sekunden zählend, wie sie ihr vom sanften Pulsieren der Arterien irgendwo im Körper angezeigt wurden. Bis sie erst langsam, dann jedoch in einem einzigen Augenblick begriff, dass sie hinaufsteigen musste. Sie zog sich einen Moment lang in sich zurück, eingeschüchtert von dieser Entdeckung, die nicht mit dem Tag als Ganzem verknüpft war, nicht an alte Wünsche anschloss und frei aufstieg wie eine Inspiration. Sie zögerte, es wurde schon so spät. Doch in einem leichten Impuls sprang sie über die Wiese, und ihr Körper eilte ihrem Denken voraus. Eine einzige goldene, blasse Farbe bedeckte schwerelos das Gras. Ja … irgendwo öffnete und schloss ein Reh sanft die Lider, leckte ein Neugeborenes ab, das noch müde lächelte, ihre Haare stellten sich auf, fein, wie zerbrechliche Halme, während sie mit halbgeöffneten Sinnen mühselig und aufmerksam die Erde eroberte. Kein Baum, kein Fels, nur Nacktheit bis zu dem Horizont aus erloschenen Bergen; ihr Herz schlug an der Oberfläche, und sie atmete kaum, als genügte ihr zum Leben das Schauen.
    Da geschah es, dass sie bis ans Ende erlebte, was sie als Vorahnung schon am Rand des Hochplateaus in Unruhe versetzt hatte. Mit einer beherrschten, strahlenden und zarten Freude spürte sie fast unwissend, dass sie, aber ja, aber ja, in gewisser Weise da war auf dem Feld … verstehst du?, fragte sie sich verwirrt, und das dunkle Auge schaute hilfesuchend zu den weiß verfärbten Bergen. Die Lippen halb geöffnet, trocken vom Wind, der ohne Unterlass blies, setzte sie ihr hartes, bescheidenes Hochgefühl mit leichteren Füßen fort, den Körper zu Bewegungen geschärft. Lächelnd malte sie sich aus, dass ihr von hinten, während sie weiter aufstieg und nie ans Ziel kam, die schreckgeweiteten Augen vieler Menschen folgten, wie einer entflohenen Vision … Ja, ja, so wurde es mit jedem Mal einfacher, den großen weißen Körper weitergehen zu lassen … Sie lächelte verschlagen hinter sich, und da, als hätte sie tatsächlich an das geglaubt, was sie sich ausgemalt hatte, da sah sie, dass sie alleine war. Aber ein Mensch, ein Mensch, flehte sie erschrocken … einer, der sie verstünde in diesem Moment auf der Wiese, der sie überraschen könnte, fast schmerzlich. Doch keiner sah sie, und der Wind blies beinahe kalt. Sie fühlte sich so schön, runzelte die Brauen, das nutzen, es nutzen, um gesehen zu werden, geliebt, um zu lieben! Nichts jedoch war da, das Gebrauch von ihr gemacht hätte, die Schönheit schien durch sich selbst so verloren, sie blieb in jedem Fall unangetastet und nachdenklich wie eine Blume, die von Natur aus nicht zu erobern war; keiner, keiner sah sie – die Stille und

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