Der Lustmolch
seine Gitarre bearbeitete, bis sie wie ein träger Wind durch die Herzfasern der Anwesenden strich. Er grinste über beide Ohren.
Von den etwa hundert Gästen im Slug litt etwa die Hälfte unter den Folgen ihres Medikamentenentzugs. Eine Abteilung davon lungerte voller Selbstmitleid am Tresen herum, starrte in ihre Gläser und wiegte sich im Rhythmus des Delta. An den Tischen hingegen saßen die Geselligeren unter den Depressiven, die sich gegenseitig lallend die Ohren volljammerten, wobei sie sich abwechselnd in die Arme nahmen oder beschimpften. Am Pooltisch standen die Gereizten und Aggressiveren herum und suchten jemanden, dem sie die Schuld für ihr Elend in die Schuhe schieben konnten. Bei letzteren handelte es sich größtenteils um Männer, und Theophilus Crowe behielt sie von seinem Platz an der Bar aufmerksam im Auge.
Seit dem Tod von Bess Leander hatte es fast jeden Abend eine Schlägerei im Slug gegeben. Zusätzlich wurde seitdem mehr herumgekotzt, gekreischt, geheult, und mehr Annäherungsversuche wurden mit schallenden Ohrfeigen bedacht als je zuvor. Theo hatte schwer zu tun. Ebenso wie Mavis Sand. Mit dem Unterschied, daß Mavis froh darüber war.
In ihren mit Farbflecken übersäten Latzhosen trat Estelle durch die Tür. Sie trug einen Shetland-Pullover, ihr Haar war zu einem langen grauen Zopf geflochten. Kaum daß sie zur Tür herein war, blieb sie stehen, als sei sie gegen eine Wand aus Musik und Qualm gelaufen. Aus einer Gruppe mexikanischer Arbeiter, die mit Budweiser-Flaschen in der Hand herumstanden, erhob sich ein Pfiff.
»Ich bin eine alte Dame«, sagte Estelle. »Schämt euch was.« Sie schob sich durch die Gästeschar zur Bar und bestellte einen Weißwein. Mavis schenkte ihr einen Plastikbecher voll ein. (In letzter Zeit schenkte sie alles in Plastikbechern aus. Offensichtlich beförderte der Blues das Verlangen der Leute, Glas zu zerdeppern - vorzugsweise auf dem Schädel ihres Gegenübers.)
»Ganz schön viel Betrieb, was?« sagte Estelle, obwohl sie eigentlich keine Vergleichsmöglichkeit hatte.
»Der Blues treibt die Leute in Scharen rein«, sagte Mavis.
»Ich kann an Blues nichts finden«, sagte Estelle. »Ich mag klassische Musik.«
»Drei Dollar«, sagte Mavis. Sie nahm Estelles Geld und ging zum anderen Ende der Bar.
Estelle fühlte sich, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpaßt.
»Kümmern Sie sich nicht um Mavis«, sagte die Stimme eines Mannes. »Sie ist immer grantig.«
Estelle hob den Kopf, erblickte einen Hemdknopf und schaute weiter hoch, bis sie Theo lächeln sah. Sie war dem Constable noch nie begegnet, doch sie wußte, wer er war.
»Ich weiß noch nicht mal, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich trinke eigentlich gar nicht.«
»Irgendwas liegt in der Luft«, sagte Theo. »Kann sein, daß wir 'n stürmischen Winter kriegen oder so. Die Leute drehen ein bißchen durch.«
Sie stellten sich einander vor, und Theo lobte Estelles Gemälde, die er in den Galerien am Ort gesehen hatte. Estelle überging sein Lob.
»Bißchen seltsame Lokalität, wenn man den Sheriff treffen will«, sagte Estelle.
Theo zeigte ihr das Handy an seinem Gürtel. »Operationsbasis«, sagte er. »Der meiste Ärger fängt sowieso hier an und wenn ich schon da bin, kann ich eingreifen, bevor es eskaliert.«
»Wie verantwortungsbewußt.«
»Nein, ich bin einfach nur faul«, erwiderte Theo. »Und müde. In den letzten drei Wochen mußte ich mich um fünf Familienstreitigkeiten, zehn Schlägereien und zwei Leute kümmern, die sich im Bad verbarrikadiert hatten und mit Selbstmord drohten. Dann gab's noch einen Kerl, der mit einem Vorschlaghammer von Haus zu Haus gezogen ist und den Gartenzwergen den Kopf abgeschlagen hat, und eine Frau, die versucht hat, ihrem Mann das Auge mit einem Löffel rauszureißen.«
»Meine Güte. Das hört sich ja an wie ein Tag im Leben eines Polizisten in L. A.«
»Hier ist aber nicht L. A.«, sagte Theo. »Ich will mich ja nicht beklagen, aber auf eine Verbrechenswelle bin ich nicht vorbereitet, da komm ich nicht mit klar.«
»Und es gibt nichts, wohin man sich flüchten könnte«, sagte Estelle.
»Wie bitte?«
»Die Leute kommen hierher, weil sie vor Konflikten wegrennen, oder etwa nicht? Sie ziehen in eine Kleinstadt, um der Gewalt und dem Streß in der Großstadt zu entkommen. Wenn man hier nicht damit fertig wird, hat man keine andere Möglichkeit mehr. Man kann genausogut aufgeben.«
»Das ist aber ein bißchen zynisch. Ich dachte immer, Künstler
Weitere Kostenlose Bücher