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Der Lustmolch

Der Lustmolch

Titel: Der Lustmolch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Moore
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könnte ihnen ja erzählen, daß ich bei ihren Pillen Lieferprobleme habe.«
    »Das würde doch nicht hinhauen, Winston. Denn bei Thrifty Mart hat niemand ein kleines Problem - so wie Sie.«
    »Es wird zu Entzugserscheinungen kommen. Wie werden Sie das erklären?«
    »Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich werde meine Sitzungen vervierfachen. Ich will, daß es diesen Leuten bessergeht, anstatt ihre Probleme zu kaschieren.«
    »Das hat mit dem Selbstmord von Bess Leander zu tun, stimmt's?«
    »Ich werde nicht noch einen Patienten verlieren, Winston.«
    »Antidepressiva erhöhen aber nicht die Häufigkeit von Selbstmorden oder Gewalttaten. Das hat Eli Lilly vor Gericht bewiesen.«
    »Aber klar doch, und O. J. Simpson wurde freigesprochen. Was im Gerichtssaal entschieden wird, ist eine Sache, aber wenn man einen Patienten verliert, dann ist das Realität. Jetzt bestellen Sie also die Pillen. Ich wette, bei Zuckerpillen ist die Profitrate noch um einiges höher als bei Prozac.«
    »Dann könnte ich ja in die Keys nach Florida fahren. Da gibt's eine Stelle, wo sie einen mit Flaschenhalsdelphinen zusammen schwimmen lassen.«
    »Sie können hier nicht weg, Winston. Sie dürfen keine Ihrer Sitzungen verpassen. Ich will Sie mindestens einmal pro Woche sehen.«
    »Sie mieses Luder.«
    »Ich versuche nur das Richtige zu tun. Welcher Tag paßt Ihnen denn?«
    »Ich rufe Sie zurück.«
    »Zwingen Sie mich nicht, Winston.«
    »Ich muß eine Bestellung aufgeben«, sagte er und fügte gleich darauf hinzu: »Doktor Val?«
    »Was ist?«
    »Muß ich das Serozone absetzen?«
    »Darüber reden wir in der Sitzung.« Sie legte auf und zog ein Post-it aus dem Brustkorb von Hippokrates.
    »Wenn ich nun diesen meinen Eidspruch erfülle und nicht verletze, möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, Ruhm und Ansehen bei allen Menschen bis in ewige Zeiten. Wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, möge mich das Gegenteil treffen.«
    Heißt das, man ist entehrt für alle Zeit? überlegte sie. Ich versuche doch nur, das Richtige zu tun. Endlich das Richtige zu tun.
    Sie machte sich eine Notiz, daß sie Winston zurückrufen mußte, um seine Termine festzulegen.
     
     
    -4-
    ESTELLE BOYET
    Mit dem Fortschreiten des Septembers wurden die Menschen von Pine Cove von einer seltsamen Unruhe gepackt. Dies lag zu einem nicht unbedeutenden Teil daran, daß bei etlichen von ihnen nun Entzugserscheinungen infolge des Absetzens ihrer Medikamente einsetzten. Es ging nicht schlagartig - keinesfalls war es so, daß die Straßen plötzlich mit schwitzenden Junkies aus der Mittelschicht bevölkert gewesen wären, die sich unruhig hin und her wiegten und um eine Spritze bettelten -, es war vielmehr ein schleichender Vorgang, der einherging mit dem Kürzerwerden der Tage. Jedenfalls glaubten sie dies, denn Val Riordan hatte jeden einzelnen ihrer Patienten angerufen und ihnen erklärt, daß sie unter einer minderschweren jahreszeitlich bedingten Verstimmung litten, ähnlich dem Frühjahrsfieber. In diesem Fall vielleicht eher Herbst-Malaise.
    Die Eigenheiten der Medikamente bewirkten, daß das Einsetzen der Symptome sich über mehrere Wochen hinzog. Prozac und einige ältere Antidepressiva brauchten fast einen Monat, bis sie abgebaut waren, so daß diese Patienten wesentlich langsamer in die Bredouille gerieten als jene, denen Zoloft, Paxil oder Wellbutrin verordnet war. Deren Wirkstoffe wurden schon nach ein bis zwei Tagen aus dem Stoffwechsel gespült. Die Entzugssymptome ähnelten einer schwachen Grippe, gefolgt von gelegentlicher Orientierungslosigkeit ähnlich einer temporären Störung des Konzentrationsvermögens. In einigen Fällen kam es auch zu einem Wiedereinsetzen der Depressionen, die sich über die Betroffenen legten wie ein nebliger Vorhang.
    Eine der ersten, die die Auswirkungen zu spüren bekamen, war Estelle Boyet, eine recht erfolgreiche Malerin aus Pine Cove, die es mit idealisierten Darstellungen des Meeres und des Lebens an der Küste zu bescheidenem Ruhm gebracht hatte. Ihr Pillenvorrat war einen Tag, bevor Doktor Val die Medikamente durch Placebos ersetzt hatte, zur Neige gegangen, und so steckte sie schon mitten im Entzug, als sie die erste Dosis Zuckerpillen nahm.
    Estelle war sechzig Jahre alt, rüstig und vital. Sie trug Kaftane in leuchtenden Farben, und ihr langes graues Haar umwogte ihre Schultern, während sie mit einer Energie und Bestimmtheit durchs Leben schritt, die Neidgefühle bei Frauen weckten, die nur

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