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Der Lustmolch

Der Lustmolch

Titel: Der Lustmolch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Moore
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halb so alt waren wie sie. Dreißig Jahre lang hatte sie als Lehrerin in dem von zunehmender Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft geprägten Schuldistrikt von Los Angeles gearbeitet und Achtkläßlern den Unterschied zwischen Acryllack und Ölfarbe, Spachtel und Pinsel, Degas und Dali erklärt. Dreißig Jahre hatten ihr ihre Ehe und ihre Arbeit als Entschuldigung dafür gedient, daß sie nie eigene Kunst produziert hatte.
    Geheiratet hatte sie gleich nach der Kunsthochschule: Joe Boyet, ein vielversprechender Geschäftsmann. Er war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, und erst der dritte, mit dem sie geschlafen hatte. Als Joe starb - acht Jahre war das mittlerweile her -, hatte sie fast den Verstand verloren. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, in der Hoffnung, durch die Anregungen, die sie ihren Schülern vermittelte, selbst einen Grund dafür zu finden weiterzumachen - auch wenn sie sich angesichts der zunehmenden Gewalt an ihrer Schule nur mit einer kugelsicheren Weste unter ihrem Malerkittel in den Unterricht traute und sie einige Farbbeutelgewehre mitgebracht hatte, um das Interesse ihrer Schüler zu wecken, was aber nur zu diversen Fällen von abstraktem Drive-by-Expressionismus geführt hatte. Es dauerte nicht lange, da bekam sie Morddrohungen, weil sie nicht erlaubte, daß die Schüler in ihrem Keramikunterricht Crackpfeifen herstellten. Ihre Schüler - Kinder, die in einer hypererwachsenen Welt aufwuchsen, wo Streitigkeiten auf dem Spielplatz mit Neun-Millimeter-Pistolen ausgetragen wurden - nahmen ihr schließlich die letzte Lust am Lehrberuf. Der Schulpsychologe überwies sie an einen Psychiater, der ihr Antidepressiva verschrieb und empfahl, sich augenblicklich in den Ruhestand versetzen zu lassen und einen Ortswechsel vorzunehmen.
    Estelle zog nach Pine Cove, wo sie anfing zu malen und wo Doktor Valerie Riordan sie unter ihre Fittiche nahm. So war es nicht allzu verwunderlich, daß ihre Bilder im Verlauf der letzten Wochen immer finsterer geworden waren. Sie malte den Ozean. Und zwar jeden Tag. Wogen und Gischt, Felsen und Tang, der in wellenförmigen Strängen den Strand säumte. Sie malte Otter, Seelöwen, Pelikane und Möwen. Sie konnte kaum so schnell malen, wie ihre Werke in den Galerien am Ort verkauft wurden. Doch in letzter Zeit wurde der innere Glanz im Herzen der Wogen, das Titanweiß und Aquamarin, von einer gewissen Düsternis überlagert. In all ihren Strandstilleben spiegelten sich
    Verzweiflung und tote Fische. Sie träumte von schattenhaften Ungeheuern, die unter der Oberfläche der Wogen auf sie lauerten, und wachte zitternd vor Angst aus diesen Träumen auf. Es fiel ihr immer schwerer, jeden Tag ihre Farben und die Staffelei zum Strand zu schaffen. Das offene Meer und die leere Leinwand waren einfach zu furchterregend.
    Joe ist weg, dachte sie. Ich habe keinen Beruf und keine Freunde, und ich produziere nichts weiter als kitschige Meerlandschaften, die genau so platt und seelenlos sind wie Wandteppiche mit dem Porträt von Elvis. Alles macht mir angst.
    Val Riordan hatte sie angerufen und gedrängt, an einer Gruppensitzung für Witwen teilzunehmen, doch Estelle hatte abgelehnt. Statt dessen ließ sie eines Abends, nachdem sie ein quälendes Bild eines gestrandeten Delphins vollendet hatte, ihre acrylgetränkten Pinsel eintrocknen und machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum - wohin war ihr egal, Hauptsache, sie mußte sich nicht diese Scheiße ansehen, die sie die ganze Zeit über Kunst genannt hatte. Sie landete schließlich im Head of the Slug Saloon - es war die erste Bar, in die sie einen Fuß setzte, seit sie vom College abgegangen war.
    Das Slug war erfüllt von Blues und Zigarettenrauch und voll mit Kampftrinkern, die sich einen Schnaps nach dem anderen hinter die Binde kippten, um sich ihr Elend vom Leib zu halten. Wären sie Hunde gewesen, so hätten sie sich auf dem Rasen herumgewälzt, Gras gefressen und versucht das herauszuwürgen, weshalb sie sich so mies und beschissen fühlten. Knochen, an denen nicht herumgenagt, Bälle, denen nicht hinterhergejagt wurde - kein Schwanz, der munter wedelte. O ja, das Leben war eine Katze, die zu schnell, eine Leine, die zu kurz war. Ein Floh, der an einer Stelle saß, wo man sich nicht kratzen konnte. Es war das Hundeelend in Reinkultur, und Catfish Jefferson führte das Geheul an. In seinen Augen schimmerte der Mond, während sein Gesang die Summe menschlichen Elends und Jammers in A-Moll zusammenfaßte und er mit dem Slide

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