Der Maedchenmaler
mit der sie ihn betrachtete.
»Komm rein«, sagte sie. »Ich bin Merle.«
Mike kam sich hölzern vor und viel zu lang geraten. Hätte er einen Hut getragen, er hätte ihn wie ein Verdächtiger in einem der alten amerikanischen Schwarz-Weiß-Schinken abgenommen und vor Nervosität mit beiden Händen zerknautscht. So aber konnte er nur ein bisschen in sich versinken und hoffen, die Situation heil zu überstehen.
»Hallo«, sagte er und streckte Merle die Hand hin.
Ihr Händedruck war fest. Er hatte es nicht anders erwartet. Schon ihre Stimme am Telefon hatte klargestellt, dass sie wusste, was sie wollte.
»Und das ist meine Freundin Jette.«
Das Mädchen, das hinter Merle aufgetaucht war, lächelte ihn ebenfalls an, zurückhaltend, vorsichtig. Es war wie bei Hunden, die einander beschnüffeln und in gebührendem Abstand umkreisen, bis sie wissen, was sie voneinander zu halten haben.
Mike fühlte sich spontan zu Jette hingezogen. Ihr schmales Gesicht war blass und ernst. Ihre Augen wirkten viel zu groß. Ihr Körper war schlank und zerbrechlich. Dabei sah sie nicht krank aus. Vielleicht war sie einfach erschöpft. Oder krank gewesen.
»Ich bin Mike«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen.
Als er die Jacke an die Garderobe hängte, entdeckte er zwei Katzen, die aus einer der offenen Türen lugten.
»Das sind Donna und Julchen«, erklärte Merle. »Ich hoffe, du hast keine Katzenallergie?«
Mike schüttelte den Kopf.
»Wir haben nämlich ständig irgendwelche Tiere in Pflege«, sagte Merle. »Für einen Allergiker wär das Leben hier die Hölle.«
»Tierschutz?«, fragte Mike.
Merle nickte. Offenbar wollte sie im Augenblick nicht zu viel verraten.
Sie führten ihn in eine gemütliche, etwas chaotische Küche mit Pflanzen auf den Fensterbänken, Bildern, Ansichtskarten und Gedichten an den Wänden und einem Gewirr von Geschirr, Gewürzgläsern und Teedosen auf einem Regal, das die gesamte Wand über der Arbeitsfläche einnahm.
Mike fühlte sich sofort wohl. Es war alles so anders als in der hochglanzpolierten Küche seiner Mutter, in der niemals etwas herumstehen durfte, in der jede Schranktür und jeder Schubladengriff täglich abgewischt wurden, in der man nicht einen Moment länger als nötig sitzen blieb.
Beim zweiten Gang durch den Flur fielen ihm jetzt Fotocollagen auf. Er erkannte Jette und Merle, aber da war noch ein Mädchen, eines mit kurzem schwarzem Haar, klein und zierlich, wie ein Kind. Sie hatte ein Lachen, das einen förmlich ansprang, offen, fröhlich, voller Leben.
»Das ist Caro«, sagte Jette hinter ihm. »Sie ist... sie ist...« Sie räusperte sich.
»Tot«, sagte Merle.
Mike drehte sich zu ihnen um. Merle hatte Jette den Arm um die Schultern gelegt. In Jettes Augen standen Tränen. Merles Mund war ein gerader, blasser Strich.
»Du musst das wissen«, sagte sie. »Denn es ist Caros Zimmer, das...«
Jetzt war sie es, die ihren Satz nicht beenden konnte. Wo war er da hineingeraten? Mike wünschte sich, Ilka wäre hier. Er hätte ein bisschen Unterstützung gebraucht in dieser Situation. Aber Ilka war nicht zu Hause gewesen, als er sie abholen wollte. Er war sich vorgekommen wie ein Trottel - versetzt und vergessen.
»Das Bad.« Merle hatte sich von Jette losgemacht und die Tür am Ende des Flurs geöffnet.
Mikes Blick fiel auf ein Sammelsurium an Tiegeln, Töpfchen und Tuben. Er sah Badeöle und Parfüms in schlanken und bauchigen Flaschen. Auf einer kleinen Schale lagen angestaubte Lippenstifte, Eyeliner und Wimperntusche. Die Fensterbank war voller Kerzen. Auf einem Hocker stand ein kleines Radio.
An der Innentür klebten Zettel mit Botschaften, Zitaten, Fragen.
Seit wann ist Gott stumm?
, las Mike.
Märchen sind pervers.
Und:
Du sollst Vater und Mutter ehren, und wenn sie dich schlagen, sollst du dich wehren.
»Du könntest natürlich auch was dazuschreiben«, sagte Merle. »Und wir würden dir hier«, sie machte eine Bewegung mit den Händen, die den ganzen Raum umfasste, »so viel Platz freiräumen, wie du brauchst. Ist ja klar.«
Mike sah sich mit Ilka in der Wanne liegen, knisternden Schaum auf dem Wasser und alle Kerzen angezündet. Licht und Schatten würden an den Wänden tanzen und Ilkas nasses Haar würde sich wie Tang anfühlen auf seiner Haut.
»Und jetzt das Zimmer, um das es geht.«
Merles Worte rissen ihn aus seinem Traum. Dabei war es gar nicht nötig, sich das Zimmer anzuschauen. Er wusste bereits, dass er hier leben wollte. Es war ein
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