Der Maedchenmaler
einfacher Raum, klein, schmal, leer... Das Fenster ging auf einen Hinterhof mit Blick auf die Rückseite anderer Häuser. Die Wände waren mit Raufaser tapeziert und weiß gestrichen, der Boden war mit arg strapaziertem Parkett belegt. Mike war nicht gerade ein begnadeter Handwerker. Trotzdem juckte es ihn in den Fingern, das Holz abzuschleifen und zu ölen und dann, wenn alles fertig war, mit bloßen Füßen darüber zu laufen. Er drehte sich zu den Mädchen um.
»Ich würde gern hier einziehen«, sagte er.
Es war, als fiele eine Last von ihren Schultern. Ihre Körper entspannten sich, auf ihren Gesichtern zeigte sich ein zögerndes Lächeln. Sie sahen sich an.
»Dann komm in die Küche«, sagte Jette. »Wir haben viel zu besprechen.«
Kapitel 5
Ilka hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie kannte Bröhl und die nähere Umgebung inzwischen recht gut, doch sobald sie sich darüber hinauswagte, war ihr alles fremd. Sie hatte sich auf den Sattel geschwungen und war losgefahren, immer der Nase nach, ohne auf die Richtung zu achten.
Sie hatte die Gedanken treiben lassen, keinen festgehalten, aber auch keinen verscheucht. Irgendwie musste sie mit dem Aufruhr in ihrem Innern fertig werden, bevor sie Tante Marei und den Zwillingen gegenübertrat.
Ihr war eine Szene eingefallen, die sie einmal bei einem Spaziergang am Weiher beobachtet hatte. Zwei kleine Mädchen hatten Steine aufgelesen und sie in einem Sandeimer verstaut. Sie hatten jeden Stein gründlich untersucht, sich gegenseitig seine Maserungen gezeigt und dabei gestaunt und gelacht. Plappernd waren sie weitergezogen, sich immer wieder nach neuen Steinen bückend.
Damals hatte Ilka gelächelt und die Dinge vor sich gesehen, die sie selbst als Kind gesammelt hatte. Taubenfedern. Tonscherben. Schneckenhäuser. Weiter war sie nicht gegangen in ihrer Erinnerung. Erinnern konnte gefährlich sein. Und schmerzhaft.
Ich bin nicht mehr bereit, mir Schmerzen zufügen zu lassen, hatte sie gedacht. Die Zeit der Schmerzen ist vorbei. Sie liegt weit hinter mir. Es gibt keinen Grund, den Schleier wegzuziehen. Keinen.
Ihr Leben fand jetzt statt, in jedem einzelnen Augenblick. So war es gut gewesen. Nichts anderes hatte sie gewollt. Wieso hatte sie Tante Mareis Drängen nachgegeben? Wie konnte sie so unvorsichtig sein, ihren halb wiedergefundenen Frieden aufs Spiel zu setzen? Zu einer Psychotherapeutin zu gehen! Und zu glauben, sie könnte dieser Frau etwas vormachen, eine kleine Show abziehen und anschließend unbeschadet wieder daraus auftauchen!
Sie hatte Lara Engler unterschätzt. Hatte sich von ihrem plumpen Körper, ihrer freundlichen Stimme und dem harmlosen Klackern der Armreifen einlullen lassen. Sie hatte sich von der Schönheit des Zimmers und seinen Farben ablenken lassen und für kurze Zeit vergessen, wie groß (und zerstörerisch) die Kraft der Worte sein kann.
Es war ein Irrtum gewesen zu glauben, sie könnte dorthin gehen, alles wie von außen betrachten und die Situation kontrollieren. Laras perlmutterne Fingernägel, ihr akkurater Kurzhaarschnitt, ihr Schmuck und ihr mohnroter Schal waren nur Ablenkungsmanöver gewesen. Der Fisch sieht den Wurm, aber nicht den tödlichen Haken.
Und wenn sie einfach nicht mehr hinginge? Niemand konnte sie dazu zwingen, nicht mal Tante Marei, die immer so gern für alles verantwortlich war und die Menschen wie Schachfiguren hin und her schob. Zu ihrem Besten, wie sie meinte, aber sollten die Menschen nicht selbst wissen, was gut für sie war?
Ilka hörte ein Keuchen und war überrascht, als sie bemerkte, dass es ihr eigenes Keuchen war. Sie fühlte den Schweiß auf dem Rücken und im Nacken. Ihre Finger waren rot von der Kälte. Es ging ihr nicht gut. Ihr war übel und ihr Hals war trocken. Sie sehnte sich nach einem Glas Wasser und einem geheizten Zimmer. Und nach Mike. Sie würde sich an ihn lehnen und ¦
Mike! Sie hatte die Verabredung vergessen!
Ilka stieg vom Rad und sah sich um. Sie erkannte kein Haus, keine Straße, gar nichts. In welche Richtung musste sie fahren, wenn sie nach Hause wollte? Ihre Hände flatterten. Ihr Atem ging in kurzen, hektischen Stößen. Sie merkte, dass ihr Zuckerspiegel gesunken war. Die Knie wurden ihr weich. Und dann kamen die Tränen.
Schniefend durchwühlte sie ihren Rucksack nach einem Taschentuch. Ihre Lippen bebten. Nicht durchdrehen! Bloß nicht die Nerven verlieren!
Wer die Nerven verlor, war andern ausgeliefert. Mit dem machten sie, was sie
Weitere Kostenlose Bücher