Der Maedchenmaler
hätte der Schnee jedes Geräusch erstickt.
Sie mochte diese Stimmung. Am liebsten hätte sie sich ihre Jacke geschnappt, um noch einen Spaziergang zu machen. Sie liebte es, den Schnee unter den Stiefeln knirschen zu hören. Als wäre sie allein auf der Welt.
Aber das war sie nicht. Und das war gut so.
»Gute Nacht, Mama«, flüsterte sie in die Kälte hinaus. »Schlaf schön.«
Ein fremder Wagen fiel ihr auf, der einzige, der nicht von Schnee bedeckt war. Das bedeutete, dass er eben erst angekommen sein musste.
Dunkel und groß stand er da.
Ilka spürte ein Frösteln. Es war verdammt kalt. Rasch schloss sie das Fenster, zog sich aus, schlüpfte ins Bett und mummelte sich in die Bettdecke ein. Nur ein paar Minuten ausruhen, dann würde sie ins Bad gehen und sich die Zähne putzen. Nur ein paar Minuten.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf meldete sich wieder die leise, warnende Stimme, aber Ilka hörte nicht darauf. Sie war so müde, dass sie augenblicklich einschlief.
Ruben starrte zu ihrem Fenster hinauf, bis ihm die Augen brannten. Für einen Moment beugte sie sich hinaus. Für einen Moment sah er ihr Gesicht, undeutlich, wie in seinen Träumen. Dann hörte er, wie sie das Fenster schloss.
Er wartete noch einen Augenblick, bevor er losfuhr, dunkel, lautlos und unbemerkt.
Kapitel 6
Imke Thalheim saß in ihrem Hotelzimmer und versuchte zu lesen. Die Geräuschkulisse lenkte sie immer wieder ab. Irgendwo links über ihr stritten ein Mann und eine Frau. Man konnte nicht verstehen, was sie sich gegenseitig an den Kopf warfen, aber es klang ziemlich heftig. Auf dem kleinen Marktplatz draußen testete eine Gruppe junger Männer mit ohrenbetäubendem Lärm ihre Motorräder. Und dann klingelte auch noch das Telefon.
Es war der Veranstalter einer der nächsten Lesungen, der sich erkundigte, ob Imke spezielle Wünsche bezüglich des Ablaufs habe. Imke bat um den üblichen Stuhl, den üblichen Tisch, das übliche Glas Wasser und das übliche Mikrofon. Es ärgerte sie, dass der Mann sie störte. Er hätte das alles bereits im Vorfeld regeln können.
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, fragte sie sich, was der Grund für ihre Gereiztheit war. Sie sah sich im Zimmer um, betrachtete die Rosentapete, das Eichenbett, den Spiegelschrank. Vorm Fenster hing eine geraffte Gardine. Auch die Vorhänge hatten ein Blumenmuster.
Imke kannte Menschen, denen dieses Zimmer gefallen hätte. Es war nicht schön, aber auch nicht abstoßend, es strahlte sogar eine gewisse Behaglichkeit aus. Imke fühlte sich an die guten Stuben und Wohnküchen ihrer Großtanten erinnert und an lange Geburtstagsnachmittage bei Kaffee, Torte und Likör. Nein, das Zimmer war nicht der Grund für ihre Reizbarkeit.
Natürlich war sie erschöpft von den vielen Terminen, der ständigen Konzentration, dem ewigen Reden und Händeschütteln. Und vom Lächeln. Wahrscheinlich lächelten die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben nicht so häufig wie Imke auf einer einzigen Lesereise. Ihre Gesichtszüge waren so darauf getrimmt, dass sie sich kaum noch entspannen konnten.
»Vielleicht ist es das Heimweh.« Sie fand den Klang ihrer Stimme in diesem Zimmer sonderbar. Als wäre die Stimme etwas Eigenständiges, das unabhängig von ihrem Körper existierte. »Oder ich werde allmählich verrückt. Und demnächst fange ich an, mich mit Bäumen zu unterhalten und verschiedenfarbige Schuhe anzuziehen.«
Sie hatte ein großes Verlangen danach, mit Jette zu sprechen. Aber sie hatte sich vorgenommen, sich zurückzuhalten. Sie musste sich abnabeln.
Imke stutzte. Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein? Sollten sich nicht die Töchter von den Müttern abnabeln? Sie griff nach ihrem Handy und wählte Tilos Nummer.
Er meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Na, du?« Seine Stimme war ein Stück Zuhause, und Imke drückte den Hörer ans Ohr, um nur ja kein Wort zu verpassen.
»Nie kann ich dich überraschen«, beklagte sie sich. »Was waren das doch für herrliche Zeiten, als es noch keine Displays gab.«
Sie hörte ihn leise lachen. Allein für diese Art, am Telefon zu lachen, verdiente er es, geliebt zu werden. Es war ein Lachen, das alles wieder zurechtrückte, was schief war im Leben.
»Wer muss sich eigentlich von wem abnabeln«, fragte sie ihn unvermittelt, »die Tochter von der Mutter oder umgekehrt?«
»Was möchtest du hören, Ike?«
Sie liebte es, wenn er sie so nannte.
»Deine Psychologenwahrheit natürlich.«
Er war nicht empfindlich,
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