Der Maedchenmaler
hatte Claudio ihm neulich zugeflüstert. »Die machen dich nur kaputt.« Und er hatte Merle angeschaut mit einem Blick, der Mike durch Mark und Bein gegangen war. In diesem Blick hatte alles gelegen, Liebe, Sehnsucht, Zärtlichkeit, Verlangen, aber auch Trauer, Wut und sogar Hass.
Es war an Claudios Geburtstag gewesen. Die Gäste hatten in seinem Pizzaservice gesessen, dicht gedrängt an den wenigen, zusammengestellten Tischen, und alle hatten durcheinander geredet und gelacht. Italienische und deutsche Wortfetzen waren hin und her geflogen, und auch das Gelächter, so war es Mike vorgekommen, hatte halb italienisch und halb deutsch geklungen.
Merle, am anderen Ende der Tafel, hatte Claudios Blick bemerkt und ihn mit einer Kusshand beantwortet. Sie hatte ein bisschen zu viel getrunken und war beschwipst und hübsch und so fröhlich, wie Mike sie noch nicht erlebt hatte.
»Schau sie dir an«, hatte Claudio leise gesagt. »Sie hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich bin nichts ohne sie.«
Mike wusste inzwischen, dass der Wein Claudio wehleidig machte. Und zu einem Freund großer Worte. Im nächsten Augenblick konnte derselbe Claudio Merle wütend von sich stoßen, sie beleidigen und wüst beschimpfen. War das seine spezielle Art der Leidenschaft? Oder wurde jede Liebe irgendwann so?
Sie hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich bin nichts ohne sie.
Mike saß in seinem Zimmer und sehnte sich danach, Ilka zu berühren. Er sah hinaus in die Dunkelheit, Mitternacht war längst vorbei, und sehnte sich danach, ihre Stimme zu hören. Es hätte ihn schon glücklich gemacht, sie nur anschauen zu dürfen.
Er stand auf und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Die Katzen begrüßten ihn mit leisen, zärtlichen Lauten. Er gab ihnen etwas Milch und setzte sich mit einem Glas Saft an den Tisch.
Donna war wie immer zuerst fertig. Sie sprang auf einen der Stühle und putzte sich. Ab und zu hielt sie in der Bewegung inne und starrte ihn aus schmalen Augen an.
»Ihr mögt sie doch auch«, sagte Mike. »Habt ihr nicht einen Rat für mich?«
»Katzen denken in erster Linie an sich selbst. Und sie verbergen das auch nicht. Sie sind ehrlich und aufrichtig. Im Gegensatz zu den meisten Menschen.«
Mike fuhr herum. In der Tür stand Merle, das Haar wirr vom Schlaf. »Ich hab ganz blöd geträumt«, sagte sie. Und sie setzte sich zu ihm und Donna an den Tisch und erzählte von ihrem Traum.
Freitag. Welche Angst sie neuerdings vor diesem Wochentag hatte. Den ganzen Morgen schon ballte sich das Unbehagen in ihrem Magen zusammen und steigerte sich zum Nachmittag hin ins Unerträgliche.
Mike wusste, dass sie eine Therapie machte, er hatte allerdings keine Ahnung, warum. Ilka war ihm dankbar dafür, dass er nicht fragte. Sie wollte die Gefühle zwischen ihnen nicht mit einer Lüge belasten.
Lara Engler war ihr nicht mehr ganz so fremd, aber auch längst noch nicht vertraut. Vielleicht würde es eine richtige Vertrautheit zwischen ihnen ja niemals geben, denn dazu gehörte, dass jeder etwas über den andern erfuhr. Die Rollen zwischen ihnen jedoch waren einseitig verteilt. Ilka redete und Lara hörte zu. So funktionierte Therapie. Ilka kehrte ihr Innerstes nach außen. Sie stülpte ihre Gedanken um und legte sie vor Lara auf den Tisch. Und Lara hörte zu, wollte mehr und mehr, forderte immer neue Geheimnisse. Durch ihr Schweigen. Ihr Zuhören.
Bis die Stunde zu Ende war. Lara überzog nie. Nicht mal um zwei, drei lächerliche Minuten. Ilka grübelte oft darüber nach. Wie konnte Lara wirklich verstehen, wenn sie nicht bereit war, die Zeit zu vergessen? War das, was in ihren Augen zu lesen war, echtes Interesse und menschliche Anteilnahme? Oder war ihre Aufmerksamkeit reine Routine, pure professionelle Sachlichkeit, bei der sie gleichzeitig die Uhr und die Gebührentabelle im Kopf behalten konnte?
Ilka stellte ihr Rad ab und ging langsam auf das gelbe Haus zu. Sie fühlte sich an das Bild erinnert, das sie für Mike gemalt hatte, und eine tiefe Zärtlichkeit breitete sich in ihr aus. Das hier tat sie nicht mehr für Tante Marei und nicht nur für sich selbst. Sie tat es auch für Mike. Damit sie ihn richtig lieben konnte. Damit nichts mehr zwischen ihnen stand.
Sie wollte endlich normal sein. So fühlen wie andere Mädchen in ihrem Alter. Vor allem aber wollte sie keine Angst mehr haben.
Lara machte ihr auf. Diesmal trug sie einen sandfarbenen Rock aus grobem Leinen mit einer langen weißen Bluse darüber. Die
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