Der Maedchenmaler
Kunst
brachte einen Artikel über ihn. Eine allseits bekannte und gefürchtete Journalistin, die seit über zwanzig Jahren in der Kunstkritik den Ton angab, und ein schweigsamer, Kaugummi kauender Fotograf hatten ihm dafür einen ganzen Tag gestohlen.
Der Titel sprang ihm förmlich entgegen.
Der Mädchenmaler
.
Ruben merkte, wie sein Adrenalinspiegel von Satz zu Satz stieg. Diese Journalistin war ihm gefährlich nah gekommen. Sie hatte einen Blick hinter seine Fassade getan. Nie wieder würde er ihr ein Interview geben.
In all seinen Bildern sah sie nur den verzweifelten Versuch, sich von der Frau zu befreien, die er dann doch wieder und wieder malte. Sie versuchte, diese Frau zu beschreiben, und wenn man nicht blind war, konnte man Ilka darin erkennen.
Eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Auch wenn er sie immer anders malt, spätestens auf den zweiten Blick erkennt man sie. Mag er die Farbe ihrer Haare und Augen verändern, Körper und Gesicht verzerren oder unter Schleiern und Stoffen verstecken, er kann den Betrachter nicht täuschen. Hinter all den Kunstgriffen schaut uns ein und dasselbe Mädchen an und er ist besessen von ihr.
Wieso hatte er sich am Tag des Interviews so sicher gefühlt und ihren scharfen Blick nicht bemerkt? Wieso die Richtung ihrer Fragen nicht erkannt? Wie hatte sie so weit eindringen können in das, was er vor der Welt versteckte?
Er schmetterte das Mistblatt gegen die Wand und schleuderte den Kaffeebecher hinterher. Riss das Bild, an dem er malte, von der Staffelei, fegte Farben, Skizzen, Pinsel, Spachtel und Stifte vom Tisch. Lief zu der Zeitschrift und trampelte darauf herum. Hob sie auf und zerfetzte sie, bis er erschöpft war und genug hatte.
Schwer atmend stand er in dem Durcheinander und hatte immer noch Lust, dieser Frau den Hals umzudrehen. Er nahm eine Bewegung im Garten wahr und wandte den Kopf. Am Fenster sah er Judiths Gesicht. Erschrocken starrte sie ihn an.
»Ich hab gedacht, wir würden den Tag zusammen verbringen«, sagte Mike.
»Geht leider nicht. Eine Familiensache, die ich nicht absagen kann.«
Ilka stapfte in ihren dicken Stiefeln gegen die Kälte an, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Nase sah aus wie erfroren.
Mike fühlte die Zärtlichkeit für sie wie einen Schmerz. Er beugte sich zu ihr hinunter und zog sie an sich, um sie zu wärmen. Vorsichtig küsste er ihr Ohr. Es war wie aus Eis. Als könnte es im nächsten Augenblick zerspringen.
»Dann komm wenigstens noch ein bisschen mit zu mir«, flüsterte er.
Sie hatten zusammen eingekauft, nicht viel, denn es war ihnen zu voll gewesen in den Geschäften, zu hektisch und zu laut. Alle Lebensmittel hatten bequem in Mikes Rucksack Platz gefunden.
Ilka nickte. Weiß strömte der Atem aus ihrem Mund. Mike legte ihr den Arm um die Schultern und hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen, sie immer so gespürt, ganz nah. Niemand würde ihr jemals wehtun, wenn er es verhindern konnte.
Sie hatten die Wohnung für sich allein. Merle war an diesem Samstag in Sachen Tierschutz unterwegs, und Jette war zur Mühle gefahren, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.
Donna und Julchen kamen ihnen mit klagendem Maunzen entgegen. Mike machte eine Dose Katzenfutter auf und tauschte das Wasser gegen frisches aus. Sie verschlangen das Fleisch, als hätten sie tagelang gehungert.
»Wenn Merle und ihre Gruppe sie nicht aus dem Versuchslabor befreit hätten«, sagte Mike, »dann wären sie heute vielleicht gar nicht mehr am Leben.«
Er schaltete die Espressomaschine an und stellte Tassen auf den Tisch. Aus dem Schrank für Süßigkeiten förderte er eine Packung Zimtsterne zutage, Ilkas Lieblingsgebäck. Nach Weihnachten wurden sie zum halben Preis angeboten und er hatte einen ganzen Stapel gekauft. Lächelnd sah er zu, wie Ilka den ersten Zimtstern in den Mund steckte und genießerisch die Augen schloss.
»Komm her«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
Ihr Kuss schmeckte nach Zimt. Ihre Wangen glühten. Ihre Hände schoben sich unter seinen Pulli und glitten über seine Haut. Mike küsste ihre Stirn, ihre Augenlider, ihre Lippen. Er vergrub die Hände in ihrem Haar. Murmelte törichte Worte und merkte, wie ihm schwindlig wurde vor Sehnsucht. Behutsam führte er sie in sein Zimmer, küsste sie wieder.
Gegenseitig zogen sie sich aus, langsam, ohne Hast. Legten sich aufs Bett. Deckten sich mit der Wolldecke zu. Mike hielt den Atem an. Zu
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