Der Maedchenmaler
Sie sind... unaussprechlich.«
»In guten wie in schlechten Zeiten.« Mike grinste. »Haben wir uns das nicht mal geschworen?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Da musst du mich verwechseln.«
»Dann tun wir das eben jetzt.«
Ilka küsste ihn noch einmal. Lange. »Danke, Mike.«
Er hielt sie fest. Am liebsten hätte er sie nie mehr losgelassen. »Kommst du nach der Sitzung zu mir?« Er zog ihr die Mütze ab und knabberte an ihrem Ohr.
Sie hielt es kaum aus, kicherte, drehte den Kopf zur Seite. »Ja.«
»Und bleibst die ganze Nacht?«
»Ja.«
»Und...«
»Ja.«
Mike hob sie hoch und wirbelte sie herum, bis ihnen beiden schwindlig war. Dann begleitete er sie zu dem kleinen gelben Haus zurück. Er sah ihr nach, wie sie den Gartenweg entlangging. Sah, wie sich die Tür öffnete. Bevor sie in das gelbe Licht des Flurs eintrat, drehte Ilka sich noch einmal um und winkte ihm zu.
Es ist mitten in der Nacht, als Ruben sie weckt. Er sitzt bei ihr auf der Bettkante und streichelt ihren Arm. Vom Flur fällt Licht ins Zimmer. Und dann ein Schatten.Jemand steht in der Tür. Ein Polizist. Er hält seine Mütze in den Händen.
Ilka weiß sofort, dass etwas mit den Eltern ist. Sie weiß auch, dass sie diesen Moment nie vergessen wird. Nicht den Lichtstreifen, der quer über ihrem Bett liegt, nicht Ruben, wie er dasitzt und sie anstarrt, nicht den fremden Mann, der mit irgendwem flüstert, und nicht das Gefühl der Leere, das sich in ihr ausbreitet.
Die Eltern hatten einen Unfall mit dem Auto. Der Vater ist an der Unglücksstelle gestorben. Die Mutter hat man ins Krankenhaus gebracht.
Der Hausarzt kommt und gibt Ilka eine Beruhigungsspritze. Bevor sie einschläft, sieht sie Frau Liepoldt, die Nachbarin, die sich leise mit dem Polizisten unterhält.
Am nächsten Morgen ist Frau Liepoldt immer noch da. Sie hat Frühstück gemacht, doch keiner rührt es an. Ruben ist kreideweiß. Er hat sich übergeben. Ilka hat es bis in ihr Zimmer gehört. Sie sitzt reglos am Tisch und registriert alles, was um sie herum geschieht, mit einer erbarmungslosen Deutlichkeit.
Frau Liepoldts Gesicht ist fleckig, ihre Augen sind verquollen. Sie hat sich nicht umgezogen. Ihre Bluse ist zerknautscht und nicht mehr ganz sauber. Ruben kaut an den Fingernägeln. Das Geräusch zerrt an Frau Liepoldts Nerven, denn sie zuckt jedes Mal zusammen, wenn ein Nagel bricht.
Es regnet. Die Fensterscheiben sind übersät mit großen und kleinen Tropfen. Der Hund liegt an der Terrassentür. Ab und zu hebt er den Kopf und winselt leise. Er spürt, dass etwas nicht stimmt. Die wilde graue Katze, die sonst immer draußen auf ihr Futter wartet, ist nicht da. Vielleicht ist ihr auch etwas passiert.
Ilka will aufstehen, aber die Beine gehorchen ihr nicht. Sie stützt sich auf den Tisch, verliert fast das Gleichgewicht und plötzlich schießen ihr die Tränen in die Augen. Sie weint und weint, kann gar nicht mehr aufhören.
Frau Liepoldt zieht sie an sich. »Alles ist gut, meine Kleine, alles ist gut.«
Aber Ilka weiß, dass nichts gut ist oder je wieder gut werden wird. Und sie fühlt sich erbärmlich, weil sie sich trösten lässt, obwohl sie doch nur um die Katze weint.
»Ilka? Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Laras Stimme. Sie holte Ilka zurück in diesen schönen Raum, der in der Dämmerung, erhellt von vielen kleinen, überall verteilten Lichtern, einen ganz anderen Zauber entfaltete als bei Sonnenschein.
Ilka nickte. Ein Glas Wasser würde ihr vielleicht helfen, ihre Gedanken wieder zu sortieren. Sie durfte sich nicht so von der Vergangenheit überfallen lassen. Das machte sie zu einem offenen Buch. Sie hatte keine Ahnung, ob und was sie während solcher Phasen redete.
»Später konnte ich um meine Eltern weinen«, sagte sie, als Lara ihr wieder gegenübersaß.
»Ist Ihre Mutter an den Folgen des Unfalls gestorben?«, fragte Lara.
Wie viel hatte sie verraten?
»Nein. Meine Mutter ist nicht gestorben. Nicht äußerlich.«
»Das heißt?«
»Sie nimmt am Leben nicht mehr teil. Etwas in ihr ist tot und begraben.«
»Lebt sie in einem Heim?«
Das hörte sich so endgültig an. Als wäre damit das Todesurteil unterschrieben. Deshalb hatte sie nie darüber reden wollen.
»Ja! Sie lebt in einem Heim! Und ich besuche sie, sooft ich kann! Aber sie spricht nicht mit mir! Und keiner weiß, ob sich ihr Zustand jemals ändern wird! Ja! In einem Heim! Und ich vermisse sie jeden und jeden Tag! Weil ich keine Ahnung habe, wie ich
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