Der Maedchenmaler
ohne sie erwachsen werden soll! Weil ich sie brauche! Und lieb hab! Und nicht will, dass sie damals mit meinem Vater gestorben ist! Und das alles wollte ich Ihnen überhaupt nicht erzählen!«
Sie war laut geworden. War aufgesprungen und im Zimmer hin und her gelaufen. Jetzt stand sie am Schreibtisch und sah Lara nur noch durch einen Tränenschleier.
Lara saß da und wartete. Worauf, zum Teufel, wartete sie? Darauf, dass Ilka sich beruhigte? Darauf, dass sie weitersprach? Wollte sie auch all die anderen Geheimnisse aus ihr herauskitzeln?
»Da können Sie lange warten!«
Ilka drehte sich um und ging zur Tür.
Lara kam ihr nach. »Sie sind meine letzte Patientin für heute, Ilka. Was halten Sie von einer Tasse Tee?«
Tee! Als wäre das ein Allheilmittel. Nicht mal der teuerste und beste aller Tees würde ihr helfen. Lara hatte ja keinen Schimmer, wie es in ihr aussah! Ilka schnappte sich ihre Jacke, riss die Tür auf und stürzte hinaus. Im Laufen zog sie die Jacke an. Sie hörte, dass Lara ihren Namen rief. Spürte die wohltuende Kälte.
Sie hatte nur einen Wunsch - durch die Straßen zu laufen, bis sie wieder klar denken könnte. Und dann zu Mike zu gehen. Sie brauchte jetzt keine Worte. Sie brauchte Mike. Seine Wärme, seine Berührungen.
»Mike«, murmelte sie. »Lieber Mike.«
Kapitel 12
»Was ist los?«, fragte Merle ungnädig. Sie kniete auf dem Fußboden und beschriftete ein Plakat für eine Tierschutzdemo. Das war für sie eine heilige Tätigkeit, und sie nahm es sehr übel, wenn man sie dabei störte. Sie war bis
Freihei
gekommen und hatte schon einen roten Klecks auf der Wange und einen auf der Stirn. »Ich muss mich höllisch konzentrieren, damit ich die Buchstaben nicht verwackle. Das kann ich aber nicht, wenn du ständig durch die Küche latschst und einen Seufzer nach dem andern ausstößt.«
»Ilka ist immer noch nicht da«, sagte Mike und setzte sich an den Tisch.
»Wann wollte sie denn kommen?«, fragte Merle im Tonfall einer Mutter, die sich sehr zusammennehmen muss, um ihren quengelnden Sprössling nicht anzubrüllen.
»Vor einer halben Stunde.« Mike kippelte mit dem Stuhl, dabei war er der roten Farbe gefährlich nah.
Merle schob den Topf ein Stück zur Seite. »Eine halbe Stunde ist gar nichts, Mike. Ilka verspätet sich doch öfter mal.«
»Aber ich hab so ein komisches Gefühl.«
Das konnte Merle schlecht ignorieren, denn eigentlich war sie hier diejenige, die für komische Gefühle zuständig war. Behutsam legte sie den Pinsel auf den Deckel des Farbtopfs, rappelte sich auf und wischte sich die Hände an der Hose ab.
»Kaffee?«
Mike nickte. Die Espressomaschine war für ihn noch immer eine Sensation. Manchmal trank er nur deshalb einen Kaffee, weil es ihm solchen Spaß machte, ihn zuzubereiten. Diesmal reizte es ihn nicht und er blieb sitzen.
»Hat Ilka heute nicht ihre Therapie?«, fragte Merle.
»Ja. Und die ist normalerweise pünktlich zu Ende.«
»Vielleicht hast du sie falsch verstanden und sie hatte noch was anderes vor?«
Merle stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich. Sie zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen. Ihre dicken Wollsocken, die sie zu Hause gern trug, wiesen sämtliche Regenbogenfarben auf. Wenn sie nicht gerade Transparente oder Plakate beschriftete, in Claudios Pizzaservice aushalf, in ein Tierversuchslabor einbrach oder einen Einbruch plante, dann strickte sie. Es war ihre Art zu entspannen.
»Garantiert nicht.« Mike dachte an Ilkas Versprechen. Er lächelte. Doch sofort wurde er wieder ernst. Er stand auf, trat haarscharf neben den Topf mit der roten Farbe und schaute nervös auf seine Uhr. »Ich gehe sie suchen.«
»Und dein Kaffee?«
»Ich krieg nichts runter, bevor ich nicht sicher bin, dass mit Ilka alles in Ordnung ist.«
Merle trank einen Schluck, verbrannte sich die Lippen und fluchte leise. Resigniert sah sie zu Mike auf. »Soll ich mitkommen?«
Mike schüttelte den Kopf. »Lieb von dir, Merle, aber das ist meine Sache. Und vielleicht ist es auch gut, wenn einer hier ist, falls Ilka... ich meine, vielleicht ist mein komisches Gefühl ja doch bloß Einbildung, und kaum bin ich weg, steht sie vor der Tür.«
Er zog seine Jacke an, vergaß den Schal, sprang die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, riss die Haustür auf und trat auf die Straße hinaus.
Die Dunkelheit vermittelte ihm ein Gefühl von Geborgenheit, obwohl er wusste, dass es trügerisch war. Er lief los. Seine Unruhe
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