Der Maedchenmaler
frühen Termin gebeten, weil sie ihre Stunden schlecht verschieben konnte, und Bert war es recht gewesen. Er liebte es, durch das erste graue Licht des Tages zu fahren, wenn die meisten Menschen noch schliefen oder gerade erst aufgestanden waren. Er hatte Lara Engler vorgeschlagen, sie in ihrer Praxis aufzusuchen, weil er sich ein Bild von der Umgebung machen wollte, in der Ilka therapiert worden war. Lara Engler hatte mit Erleichterung reagiert. Sie hatte offenbar noch nie mit der Polizei zu tun gehabt.
Und nun war er hier. Sie hatte ihm Kaffee angeboten und er hatte das Angebot gern angenommen. Bei einer Tasse Kaffee zu sitzen, entspannte die Atmosphäre. Außerdem brauchte er einen Koffeinschub, um seine Gedanken in Gang zu bringen.
»Was war der Grund für seine Drohung?«
»Er wollte wissen, ob ich die Ursache für das Verschwinden von Ilka Helmbach kenne.«
»Und? Kennen Sie sie?«
Sie speiste ihn mit einem halbherzigen Lächeln ab. »Das darf ich Ihnen ebenso wenig sagen wie ihm.«
»Schweigepflicht.«
Sie nickte. »Ihnen muss ich das ja nicht erklären.«
Nein, das war nicht nötig. Wenn Bert diese Schweigepflicht, an die Ärzte, Psychologen und Pfarrer gebunden waren, auch oft verfluchte, er wusste, dass sie sinnvoll und notwendig war. Nur so konnten Menschen sich sicher fühlen und aufrichtig sein. Nur so bekamen sie die Hilfe, die sie brauchten.
»Aber Sie dürfen mir verraten, ob in der letzten Sitzung etwas Außergewöhnliches passiert ist?«
»Netter Versuch, Herr Kommissar.« Sie lächelte über seinen kleinen Taschenspielertrick.
»Haben Sie bei seinem ersten Besuch denn nicht auch Mike Hendriks gegenüber eine Bemerkung darüber fallen lassen?«
»Sehr allgemein, ja.«
»Dürfte ich diese allgemeine Bemerkung bitte auch hören?« Bert fragte sich, ob Ilka Vertrauen zu dieser Frau gefasst hatte. Sie wirkte so dominant, dass ihm die Unterhaltung allmählich unangenehm wurde.
»Ich habe ihm gesagt, dass Ilka mein Haus sehr erregt verlassen hat. Und dass es dabei um eine Erinnerung ging. Das war schon weit mehr, als ich ihm hätte mitteilen dürfen.« Sie schob ihre Tasse zur Seite und sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Haben Sie sonst noch Fragen?«
Lächerlich, dachte Bert. Sie würde sie ja sowieso nicht beantworten. Er überlegte, ob er das Gespräch noch ein bisschen in die Länge ziehen sollte, einfach um sie zu ärgern, ließ es dann jedoch bleiben und stand auf.
»Nein. Das war zunächst einmal alles.«
Im Flur reichte sie ihm seinen Mantel und hielt ihm die Tür auf.
Sie scheint mich nicht schnell genug loswerden zu können, dachte Bert. Ob sie Dreck am Stecken hat?
Dreck am Stecken
. Die deutsche Sprache wimmelte nur so von derben Redewendungen. Diese roch förmlich nach Mittelalter.
»Danke«, sagte er mit leichter Ironie. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Doch seine Ironie verfehlte das Ziel. »Keine Ursache«, sagte Lara Engler verbindlich und schloss lächelnd die Tür.
Ilka glaubte sich um Jahre zurückversetzt. Ruben führte sie durch ein fremdes Haus, das sie auf Schritt und Tritt an ihr Elternhaus erinnerte. Ungläubig wanderte sie durch die hohen Räume. Da war das Wohnzimmer mit seinen wundervollen Jugendstilfenstern und dem warmen Holzfußboden, das Esszimmer mit dem anschließenden Wintergarten und schließlich die große Küche mit den schwarz-weißen Bodenfliesen.
Die Wintersonne warf ihr blasses Licht herein und Ilka fühlte es wie ein Versprechen auf dem Gesicht. Gierig nahm sie die Eindrücke in sich auf und versuchte, sich alles einzuprägen. Jedes Detail konnte wichtig sein.
Rubens Körperhaltung signalisierte höchste Wachsamkeit. Eine falsche Bewegung, und er würde sie sofort wieder nach unten bringen. Bloß das nicht, dachte Ilka. Nicht wieder hinter den vergitterten Milchglasscheiben eingesperrt sein.
Den Garten durfte sie nicht betreten, aber Ruben erlaubte ihr, eine Weile aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen. Sie sah einen großen Teich und hoch gewachsene, alte Bäume. Die Herbstblätter lagen noch im Gras, die Sträucher waren nicht geschnitten. Eine einzelne gelbe Rose leuchtete neben einer steinernen Bank.
»Hier muss Dornröschen geschlafen haben«, sagte Ilka.
Weit und breit kein anderes Haus.
»Und hier hat der Prinz sie wachgeküsst«, sagte Ruben.
Ilka hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie wusste auch so, dass Rubens Augen eine Spur dunkler geworden waren.
Und sie lebten zusammen bis ans Ende
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