Der Maedchenmaler
ihrer Tage.
Sein Arm streifte ihre Schulter. Das reichte aus, um sie in Panik zu versetzen. Sie ertrug seine Nähe nicht. Doch noch weniger ertrug sie den Gedanken daran, wieder in den Keller gesperrt zu werden. Sie wandte sich zur Tür.
»Nein.« Ruben hielt sie zurück. »Genug für heute. Die übrigen Zimmer zeige ich dir ein andermal.«
Und sie hatte so gehofft, aus den Fenstern oben mehr erkennen zu können. Es musste doch eine Straße geben oder zumindest einen Weg. Was lag hinter dem Garten? Konnte man aus dem ersten Stock über die Bäume gucken?
»Also«, sagte Ruben in ihre Gedanken hinein. »Kümmern wir uns ums Frühstück.« Er zögerte. »Die Türen sind verschlossen, die Fenster dreifach verglast. Es hat keinen Sinn durchzudrehen. Okay?«
Ilka nickte.
»Sag es.«
»Ich werde ruhig bleiben. Versprochen.«
In der Küche machte er sie mit allem vertraut. Er ließ sie einen Blick in die Schränke, die Schubladen, die Vorratskammer und den Kühlschrank werfen, erklärte ihr, wie die Kaffeemaschine funktionierte, und gestattete ihr, die Kerzen auf dem Tisch anzuzünden. Ilka presste Apfelsinen aus, verteilte Käsescheiben auf einem Teller und schob Brötchen zum Aufbacken in den Ofen.
Ruben vermied es geschickt, ihr ein Messer oder einen anderen gefährlichen Gegenstand in die Hand zu geben. Er teilte die Orangen selbst und legte ihr die Hälften hin. Er hatte alles im Voraus bedacht und dadurch war er ihr überlegen. Ruben hatte die Situation geschaffen, während Ilka davon überrascht worden war.
Sie kam sich vor wie eine Marionette in seiner Hand. Wie sollte sie die Fäden durchtrennen, wenn sie keine selbstständige Bewegung machen konnte?
Mike drückte auf den Klingelknopf. Der Ton hallte einsam und traurig durch das Haus. Wie sehr einen Empfindungen doch manchmal täuschten. Ilka war verschwunden und gleich wirkte alles auf ihn wie verlassen.
Ihre Tante öffnete die Tür zunächst nur einen Spalt. Als sie Mike erkannte, machte sie sie weit auf. »Mike! Wie schön, dich zu sehen.«
»Ich wollte fragen, ob es was Neues gibt.«
Unbehaglich stand er auf der dicken Fußmatte. Noch nie war er ohne Ilka hier gewesen, und er kam sich vor, als sei er völlig fehl am Platz.
Anscheinend freute Ilkas Tante sich wirklich über seinen Besuch. Ihr Lächeln war herzlich, ihr Händedruck fest. Rasch drückte sie die Tür zu. Wahrscheinlich waren sie und ihre Familie das Gesprächsthema der Straße. Die Leute waren verrückt nach Sensationen.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer, in dem ungewohntes Chaos herrschte. Als hätte Ilkas Tante von jetzt auf gleich mit dem Aufräumen aufgehört. Fotoalben lagen auf dem Boden, auf dem Tisch türmte sich Krimskrams.
»Ich habe gesucht. Nach irgendwas. Weil es doch eine Erklärung geben muss.«
Ihre Augen waren rot gerändert und wie entzündet. Über ihre linke Wange zog sich ein Schmutzstreifen. Als hätte sie die ganze Nacht in staubigen Kisten gewühlt.
»Und dann«, ihre Lippen bebten, »dann hab ich angefangen, mir alte Fotos anzugucken. Und mich zu erinnern.«
Ilka ließ sich nicht gern fotografieren. Auf sämtlichen Fotos, die Mike von ihr besaß, sah sie irgendwie fremd aus, sogar auf den Schnappschüssen, die es von ihr gab.
»Hier.« Ilkas Tante griff nach einer Schneekugel und hielt sie ihm hin. »Die hat Ilka mir mal geschenkt, weil sie wusste, dass ich mir als Kind immer sehnlich eine Schneekugel gewünscht habe, ohne jemals eine zu bekommen.«
Dicke Schneeflocken umwirbelten Rotkäppchen und den Wolf.
»Und weil ich Märchen liebe. Sie hat sich so was gemerkt. Nichts hat sie vergessen.« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott! Ich rede von ihr, als wär sie ¦« Sie sprang auf und lief hinaus.
Mike ging ihr nicht nach. Sie war durcheinander und brauchte einen Augenblick für sich allein. Als sie wieder hereinkam, wirkte sie gefasst.
»Ich habe mich immer für eine starke Frau gehalten, und nun merke ich, dass ich mir was vorgemacht habe.«
»Wir werden Ilka finden«, sagte Mike.
Sie nickte und kämpfte gegen neue Tränen an.
Mike stand auf und setzte sich zu ihr aufs Sofa. Vorsichtig legte er den Arm um ihre Schultern. Sie klammerte sich an ihn und weinte.
Irgendwann hatte Ilka mir von ihrer Freundin Charlie erzählt. Sie hatte auch ihren Nachnamen erwähnt. Weiß. Ich konnte mich nur deswegen daran erinnern, weil ich damals spontan an Charlie Brown hatte denken müssen.
Charlie war nicht
Weitere Kostenlose Bücher