Der magische Pflug
Tür schlief.
Peggy empfand einen Augenblick der Unruhe, wußte aber nicht den Grund dafür. Hätte sie eine Minute darüber nachgedacht, wäre es ihr bewußt geworden: Es lag daran, daß sie Mama letztlich betrogen hatte, ohne es zu wissen. Wenn Peggy für andere Menschen schaute, achtete sie stets sorgfältig darauf, möglichst weit in die Wege ihres Lebens hineinzuspähen, auf der Suche nach dunklen Stellen, deren Ursache man nicht einmal erraten konnte. Doch Peggy war sich so sicher, Mama und Papa gut genug zu kennen, daß sie nur das geschaut hatte, was unmittelbar auf sie alle zukam. So war das eben mit Familien. Man glaubte, einander so gut zu kennen, daß man sich kaum die Mühe machte, einander überhaupt kennenzulernen. Erst nach Jahren würde Peggy an diesen Tag zurückdenken und zu erklären versuchen, weshalb sie nicht geschaut hatte, was da kommen würde. Manchmal würde sie sogar glauben, daß ihre Gabe sie im Stich gelassen hatte. Doch das stimmte nicht. Denn sie selbst war es, die ihre Gabe im Stich gelassen hatte. Sie war nicht die erste, die so etwas tat, und auch nicht die letzte, schon gar nicht die schlimmste, aber es gab nur wenige, die es mehr bedauern sollten.
Die Unruhe wich von ihr, und Peggy vergaß sie, als sich ihre Gedanken auf das schwarze Mädchen im Gasthofsaal richteten. Sie war wach, die Augen waren offen. Das Baby wimmerte noch immer. Ohne daß das Mädchen auch nur ein Wort sagte, begriff Peggy, daß sie bereit war, dem Baby die Brust zu geben – sofern sich noch Muttermilch in den Brüsten befand. Das Mädchen hatte nicht mal mehr die Kraft, ihr ausgebleichtes Baumwollhemd zu öffnen. Peggy mußte sich neben sie setzen, das Kind auf die Oberschenkel gelegt, und mit der freien Hand die Knöpfe des Hemds aufnesteln. Der Brustkorb des Mädchens war so hager, ihre Rippen traten so stark hervor, daß die Brüste aussahen wie zwei Satteltaschen, die man über einen Pfahlzaun geworfen hatte. Doch die Brustwarzen waren immer noch steif zum Säugen, und um die Lippen des Babys erschien schon bald ein weißer Schaum, so daß offensichtlich selbst jetzt, kurz vor dem Ende des Lebens seiner Mutter, noch Nahrung da sein mußte.
Das Mädchen war viel zu schwach, um zu reden, aber das brauchte sie auch nicht; Peggy hörte, was sie sagen wollte, und antwortete ihr. »Meine Mama wird deinen Jungen bei sich behalten«, sagte Peggy. »Und sie wird es nicht zulassen, daß irgend jemand einen Sklaven aus ihm macht.«
Das war es, was das Mädchen am liebsten hören wollte – und das Schmatzen des Babys an ihrer Brust.
Doch Peggy wollte, daß sie noch mehr erfuhr, bevor sie starb. »Ich werde deinem Jungen von dir erzählen«, teilte sie dem Mädchen mit. »Er wird davon hören, wie du dein Leben hingegeben hast, um fortfliegen und ihn in die Freiheit bringen zu können. Er wird dich nie vergessen, niemals.« Dann blickte Peggy in das Herzensfeuer des Kindes und suchte nach dem, was er werden würde. Oh, das war eine schmerzvolle Sache, denn das Leben eines halb-weißen Jungen in einer Stadt der Weißen war immer schwer, egal welche Lebenswege er einschlug. Doch schaute sie genug, um das Wesen des Babys zu erkennen, dessen Finger an der Brust seiner Mutter kratzten und grabschten. »Und er wird ein Mann werden, für den es sich zu sterben lohnt. Das verspreche ich dir.«
Das Mädchen war froh, dies zu erfahren. Es bescherte ihr Ruhe und Frieden genug, um wieder einschlafen zu können. Nach einer Weile war das Baby satt und schlief ebenfalls ein. Peggy nahm den kleinen Jungen auf, wickelte ihn in eine Decke und legte ihn in die Armbeuge seiner Mutter. Du wirst jeden der letzten Augenblicke deiner Mama bei ihr sein, sagte sie stumm zu dem Kind. Auch das werden wir dir erzählen: daß sie dich in ihren Armen hielt, als sie starb.
Als sie starb. Papa war draußen mit Po Doggly und grub ihr Grab; Mama war auf dem Weg zu den Berrys, um sie zu überreden, ihr dabei zu helfen, das Leben und die Freiheit des Babys zu retten; Peggy aber saß hier und tat in Gedanken so, als wäre das Mädchen bereits tot.
Aber sie war noch nicht tot, noch nicht. Und plötzlich kam Peggy ein Gedanke – einem Zornesblitz gleich, weil sie zu dumm gewesen war, früher daran zu denken. Es gab einen Menschen, der die Gabe besaß, Kranke zu heilen. Hatte er nicht bei der Schlacht von Detroit neben Ta-Kumsaw gekniet, als der Körper dieses großen Roten Mannes von Kugeln durchlöchert gewesen war? Hatte Alvin nicht dort
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