Der magische Reif
grasbewachsenen Böschung kauernd, sog er gierig die vor Feuchtigkeit schwere Luft tief in sich hinein, so viel angenehmer als die in Qins Grabhügel . . . Endlich Sauerstoff!
Abgesehen von der verzehrenden Hitze zu Beginn, war der Transfer eigentlich gut verlaufen und er stellte keine der unangenehmen Reisenebenwirkungen fest. Er hatte sein Diplom als Steinmetz »Spezialgebiet Sonnensteine« mit Bravour bestanden!
Er stand auf, klopfte den Staub von Ellbogen und Knien und betrachtete die beeindruckende Mauer, die sich direkt hinter ihm erhob. Nach dem Plan von Rom, den der Tätowierte ihm mitgegeben hatte, sollte sich der Sonnenstein zu Füßen der Stadtmauer befinden. Auf den ersten Blick schien diese Angabe zu stimmen . . . Zudem zog eine Zeichnung auf der Mauer, etwa einen Meter über dem Boden, seine Aufmerksamkeit auf sich: ein Paar u-förmig geschwungener Hörner mit einer Sonnenscheibe in der Mitte . . . Das Zeichen Hathors, das Rudolf für seine Reisen durch die Zeit benutzte! Soweit Samuel verstanden hatte, erlaubte dieses Zeichen, sich von einer Zeit in die andere zu begeben, vorausgesetzt, man markierte es sowohl am Startort als auch am Ziel. Allerdings mit dem Nachteil, dass man nicht vorhersehen konnte, zu welchem anderen Hathor-Symbol man vom Sonnenstein geschickt wurde . . . Diese sehr vom Zufall abhängige Art des Reisens war sicher nicht die bequemste, doch sie musste Rudolf die Erkundung vieler Zeiten ermöglicht haben. Und vor allem hatte er immer wieder dorthin zurückkehren können, wo er einmal sein Zeichen markiert hatte. Auf diese Weise hatte er es auch geschafft, Alicia fünf Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit zu verschleppen.
Samuel untersuchte die direkt unterhalb der Wandzeichnung wuchernden Ranken und entdeckte nach kurzer Zeit einen verräterisch geformten Erdhügel. Er grub ein bisschen und brachte den Sonnenstein zutage, den Rudolf dort geschickt versteckt hatte. So fand er auch Merwosers Armreif wieder, etwas von Erde beschmutzt, ansonsten aber intakt, ebenso wie die gelochte Münze von Clemens VII. und den Stadtplan in der Transportvertiefung. Letzteren faltete er auseinander, in der Hoffnung, sich trotz des dichten Nebels besser zurechtzufinden. Auf den ersten Blick befand sich der mit der Zahl 1 markierte Sonnenstein in der Tat am Fuße der Stadtmauer, im Westen der Stadt. Um jedoch zu Punkt 2 zu gelangen – der Bibliothek, wo die Abhandlung von den dreizehn Kräften der Magie versteckt sein sollte -, musste man mitten in die Stadt hinein. Wobei nirgends auf dem Plan so etwas wie ein Stadttor eingezeichnet war . . . Punkt 3 wiederum, der Treffpunkt mit besagtem Hauptmann Diavilo, lag am anderen Ufer des Flusses. Und so grob, wie der Plan gezeichnet war, konnte man sich nur bedingt nach den angegebenen Entfernungen und der Perspektive richten.
Zunächst versuchte Sam sein Glück entlang der Mauer zu seiner Rechten. Nach einigen Minuten erreichte er das Flussufer, das er in dem dichten Nebel gerade noch erahnen konnte. Hier leckte das Wasser an den Stadtmauerring und man konnte seinen Weg nur schwimmend fortsetzen. Hin und wieder erklang ein seltsames Rumoren, erstickte Schreie und abgehacktes Geklapper. War es Morgen oder Abend? Hatte die Eroberung begonnen? Oder war sie bereits beendet? Wie dem auch sei, bis hierher schien sich jedenfalls niemand gewagt zu haben.
Auf dem Rückweg erkannte er dank vereinzelter Löcher in den Nebelschleiern, dass die Mauer keineswegs einheitlich gebaut war: Ziegel wechselten sich mit rohen Felssteinen ab und einige Teile der Mauer schienen sogar Dächer zu haben, als wären sie zu Wohngebäuden erweitert worden. Entlang des Flusses erkannte man immer wieder Bootsstege, an denen, ihren schwarzen, länglichen Umrissen nach zu urteilen, Barken festgemacht waren. Sobald er sich die Abhandlung beschafft hätte, könnte er sich eine von ihnen ausleihen, um ans gegenüberliegende Ufer zum Lager jenes Hauptmanns Diavilo zu rudern . . . Doch erst einmal musste er die Bibliothek finden!
Er passierte die Stelle, wo er Hathors Zeichen an der Mauer erkannt hatte, dann stieg er einen kleinen Hügel hinauf, um dem Verlauf der Stadtmauer zu folgen, die an dieser Stelle beinahe einen rechten Winkel beschrieb. Nun folgte er einer gepflasterten Straße, die an Gärten und großen Hütten vorbeiführte. Jetzt, wo er sich nicht mehr so weit unterhalb befand, drangen die Geräusche der Umgebung sehr viel deutlicher zu ihm: Rumpeln, entferntes Wiehern,
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