Der magische Reiter reiter1
Augenblick kein bisschen würdig, und dieses Gerede machte sie ganz benommen. »Ich habe eine Menge Fragen … «
Miss Bayberry streckte die Hand aus und tätschelte ihr das Knie. »Wir verstehen schon, Kind. Kaum hast du Selium unter wenig erstrebenswerten Umständen verlassen, da wird dein Leben durch einen sterbenden Boten mit einer unvollendeten Mission noch weiter verkompliziert. Ich kenne meine Schwester und habe ein paar Dinge gesagt, die dir sehr merkwürdig vorkommen müssen, doch wir versuchen dir zu helfen, denn wir haben in unserem Leben schon einige Grüne Reiter gekannt – Freunde unseres Vaters, die das Wenige an Magie, das sie kannten, mit ihm teilten. Sie waren immer die Nettesten.«
Die Schwestern hatten Dinge gesagt, die ihr merkwürdig vorkamen – wahrhaftig! Geister? Sie hatte noch keinen gesehen. Und Magie? Karigans Finger krampften sich um die goldene Brosche. Am liebsten hätte sie sie zusammen mit F’ryan Coblebays Botschaft ins Feuer geworfen. Wieso hatte sie seine Mission eigentlich übernommen? Ich muss von Sinnen gewesen sein … total übergeschnappt.
Vielleicht konnte sie die Botschaft ja bei den Schwestern lassen und sich damit aller Verantwortung entledigen. Plötzlich glühte die Brosche heiß in ihrer Hand auf, und sie ließ sie
auf den Boden fallen. Sie blies auf ihre schmerzende Handfläche.
»Was ist passiert, meine Liebe?«, fragte Miss Bunchberry.
»Sie hat mich verbrannt! Ich habe daran gedacht, sie loszuwerden, und da hat sie mich verbrannt!«
»Geheime Gegenstände haben oft einen eigenen Willen, und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, nun ja, dann gibt es kein Wenn und Aber mehr.«
Karigan stöhnte auf. Wie konnte ein lebloser Gegenstand einen eigenen Willen haben? Zaghaft hob sie die Brosche wieder auf. Sie war so kalt wie eh und je; lediglich ihre noch immer schmerzende Handfläche bewies, dass die Brosche sie verbrannt hatte. Verlor sie die Kontrolle über ihr Leben an ein Pferd, einen Geist und eine Brosche?
»Armes Kind«, sagte Miss Bayberry. »Du solltest ein unbeschwertes Leben mit Spiel und Tändelei führen wie alle Mädchen deines Alters. Doch ich sehe in dir zu viel Feuer für ein solches Leben. Dein Leben ist eine offene Straße voller Aufregungen und, ja, Gefahren.
Vergiss nie, dass du ein Wesen mit einem freien Willen bist. Freier Wille ist alles. Du hast die Wahl, deine Mission abzubrechen. Wahl, mein Kind, ist das Wort. Wenn du diese Botschaft gegen deinen Willen beförderst, dann ist die Mission schon gescheitert. Verstehst du das?«
Karigan nickte. Sie hatte sich entschlossen, die Botschaft zu überbringen. Sogar F’ryan Coblebay hatte ihr die Wahl gelassen. Zu glauben, dass man sie gegen ihren Willen zwang, die Botschaft zu überbringen, käme einem Eingeständnis ihrer Niederlage gleich, noch bevor die Mission überhaupt begonnen hatte.
PROFESSOR BERRYS BIBLIOTHEK
Miss Bunchberry führte Karigan in die Bibliothek ihres Vaters, damit sie sich vor dem Abendessen noch auf erholsame Weise vergnügen konnte. Die Regale an den Wänden waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt, deren Rücken hellgelb und rot, tiefblau und grün gefärbt waren. Inmitten des Farbenmeers standen ältere, in einfaches, abgewetztes Leder gebundene Folianten. Auf den Einbänden funkelten im letzten Rest des Tageslichts Prägetitel in Gold und Silber.
Wenn Karigan mehr von einer Gelehrten gehabt hätte, wäre es ihr wahrscheinlich so vorgekommen, als betrete sie ein wahres Wunderland. Die Sammlung war sogar noch größer als die von Rektor Geyer.
Bei dem Gedanken an den Rektor runzelte sie die Stirn.
Ein Erkerfenster gab den Blick nach unten auf die peinlich genau angelegten Beete frei, in denen eine Bronzestatue der sagenumwobenen Gärtnerin Marin stand, die mit verwittertem altem Gesicht über das Anwesen wachte. Spatzen und Meisen flitzten hin und her und pickten Körner aus der ausgestreckten Hand der Statue. Die Legende von Marin war vor allem in den Küstenregionen verbreitet, weil es hieß, dass sie hier im Archipel des Nordmeers einst eine Insel bewohnt haben sollte. Manche Inselkulturen verehrten sie als Mutter
der gesamten Natur, während sie für jene auf dem Festland eher eine Meerhexe war, die den Gärtnern Glück brachte und in einem abgegrenzten Bereich für Ausgewogenheit sorgte. Ein Winter für jeden Sommer, erzählte man sich.
Ihre Anwesenheit in Gärten sollte reiche Ernte bringen und das Wachstum farbenprächtiger,
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