Der magische Reiter reiter1
Schwestern, sah sie das anders. Sie kam sich albern vor.
»Na schön«, sagte Miss Bayberry mit einer lässigen Handbewegung. »Du hast deutlich gemacht, dass du nicht gerade eine eifrige Schülerin warst, was am Ende dazu führte, dass
du Selium verlassen hast. Kam dir denn niemals in den Sinn, dich dem Problem zu stellen?«
Karigans Wangen begannen wieder zu glühen. »Ich war zu wütend. Ich lief davon. Und da begegnete ich F’ryan Coblebay. «
»Ah«, sagte Miss Bunchberry. »Darauf haben wir gewartet. «
Karigan zappelte in ihrem Stuhl herum und spürte erneut die Last der auf sie gerichteten Blicke. Doch bei diesem Teil der Geschichte gab es nichts, dessen sie sich schämen musste. Sie schilderte, wie sie F’ryan Coblebay begegnet war, der durch zwei Pfeile in seinem Rücken dem Tod nahe gewesen war und sich eifrig bemüht hatte, sie zu überreden, dem König seine Botschaft zu überbringen. Sie achtete genau darauf, was sie erzählte – es wäre nicht gut, mehr als nötig zu verraten. Sie wünschte, sie hätte die Botentasche nicht aus den Augen gelassen. Sie schloss damit, wie sie mit knapper Not Hauptmann Immerez und seinen Männern entkommen war.
Die Schwestern wechselten einen weiteren Blick, als besprächen sie sich geistig miteinander. Der Raum erwärmte sich wieder beträchtlich.
»Der Geist … das heißt F’ryan Coblebay, konnte uns nicht so viel erzählen«, sagte Miss Bayberry. »Du hast erschöpfend über dich Auskunft gegeben, liebes Kind. Dein Unterfangen zeugt von Tapferkeit. Vielen wäre der Mut gesunken, hätten sie unter so ernst zu nehmenden Umständen eine derartige Botschaft befördern sollen.« Ihr musste Karigans betrübte Miene aufgefallen sein, denn sie setzte hinzu: »Rolph, der Stallbursche, hat die Botentasche sofort ins Gästezimmer gebracht, in dem du die Nacht verbringen wirst. Niemand hat das Siegel der Botschaft aufgebrochen. Auch deine anderen
Sachen erwarten dich dort … bis auf den Gegenstand, der sich gerade in unserer Obhut befindet.«
»Welcher… Gegenstand?«
»Nun, der geheime Gegenstand. Der bewirkte, dass du unsichtbar wurdest, als du es mit den Räubern auf der Straße zu tun bekamst. Die Brosche, mein Kind.«
»Oh!«
»Sie ist nicht sehr mächtig«, sagte Miss Bunchberry. »Vielleicht macht sie sogar mehr Ärger, als sie wert ist. Letitia brachte sie Bay und mir, als sie sich daranmachte, deinen schlammverkrusteten Mantel zu säubern. Die arme Seele kann Matsch nicht ausstehen. Wenn sie könnte, würde sie die ganze Welt davon säubern.«
»Ähem, Schwester«, sagte Miss Bayberry. »Bleib bitte beim Thema.«
Bunch warf Bay einen verärgerten Blick zu, dann sprach sie weiter. »Vater hatte niemanden außer uns, dem er seine Entdeckungen anvertrauen konnte. Siebenschlot war keine richtige Schule wie Selium, doch das hielt ihn nicht von seiner Berufung ab. Dem Unterrichten, meine ich. Deshalb verstehen Bay und ich uns auch darauf, magische Gegenstände wie die Brosche zu erkennen. Wahrscheinlich hast du zufällig ihre einzige Macht ausgelöst: ihren Träger unsichtbar zu machen.«
Miss Bayberry ließ die Brosche plötzlich wie aus heiterem Himmel auf ihrem Handrücken erscheinen. »Wir möchten, dass du versuchst, die Macht der Brosche heraufzubeschwören, damit wir sehen können, wie mächtig sie ist.«
Karigan richtete sich verblüfft auf. Bei aller Hingabe der Schwestern an Etikette und Sittsamkeit und ihrem vermeintlich schlichten Wesen spürte sie eine ausgeprägte Intelligenz, von der man ihr lediglich einen kleinen Teil wahrzunehmen
erlaubte. Eine Intensität umgab die beiden, als lodere verborgen hinter dieser Fassade aus Schicklichkeit, leicht gezuckertem Teekuchen und feinem Silber tief in ihrem Innern ein helles Feuer. War ihre Schlichtheit eine Täuschung, um ihre wirkliche Weisheit zu verbergen? Oder hatte ihr Vater sie einfach nur gut erzogen? Es war nicht viel Schlichtes an ihnen, fand Karigan.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Brosche irgendwie beeinflussen kann«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich es beim ersten Mal angefangen habe.«
»Versuch es einfach, uns zuliebe«, bat Miss Bunch. »Versuch dich zu erinnern, was du getan hast, kurz bevor du unsichtbar wurdest.«
Zögernd nahm Karigan die Brosche entgegen. Sie lag kalt und schwer in ihrer Hand, das geflügelte Pferd flugbereit wie stets. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was in jenen Augenblicken geschehen war, kurz bevor sie zufällig entdeckt hatte, dass sie
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