Der magische Reiter reiter1
zu sein.
Ein Zupfen an ihrem Mantel riss sie aus ihren Tagträumen. Ein kleiner Junge mit zerzaustem rotblondem Haarschopf starrte aus ernsten braunen Augen zu ihr hinauf. Er konnte nicht älter als sechs Jahre sein.
»Hast du wirklich jemanden getötet?«, fragte er ehrfürchtig.
Karigan blickte in die Runde. Die Siedler und die Söldner waren zu tief in ihre Gespräche versunken, um etwas zu bemerken. Dann sah sie wieder zu dem kleinen Jungen hinunter. »Nein.«
»Lügst du auch nicht?«
»Nein.«
»Ich glaub dir.« Er grinste sie mit strahlender Miene an, dann lief er davon und gesellte sich wieder zu seiner Mutter, die bei einer Gruppe weiterer Frauen etwas abseits stand. Sie legte beschützend den Arm um seine Schultern und starrte Karigan wütend an.
Jendara und Thorne wurden eingeladen, mit den Siedlern zu Abend zu essen. Besucher, die Neuigkeiten von weit her brachten, boten einen ausreichenden Grund zum Feiern. Das Fest wurde draußen abgehalten, weil kein Haus der Siedlung groß genug war, um mehr als eine kleine Familie zu beherbergen. Töpfe mit Priddelcreme wurden herumgereicht und Räucherkerzen angezündet, um die stechwütigen Mücken fernzuhalten.
Doch niemand gab Karigan etwas von der Creme, und man band sie außer Reichweite der Räucherkerzen an eine Esche, verstopfte ihr den Mund mit einem alten Fetzen. Wie um ihr Elend noch zu vergrößern, wogte rings um sie herum der Duft
von gebratenem Fleisch. Ihr Magen rebellierte. Der harte Brotkanten, den Thorne ihr früher am Tag zugeworfen hatte, hatte ihr Hungergefühl nicht sonderlich lindern können.
Einer der Siedler stand vielleicht zwanzig Meter entfernt Wache. Sein schartiges, verrostetes Schwert locker in der Hand, schien er allerdings mehr damit beschäftigt zu sein, die Festlichkeiten zu verfolgen. Karigan konnte Musik hören, meistens eine einfache Flöte und eine Trommel, und Gelächter und die wilden Schritte von Tanzenden.
Sie ließ es zu, dass ihr einige Tränen die Wangen hinunterliefen. Wenn sie wenigstens noch im Besitz der Brosche mit dem geflügelten Pferd oder der Steinbeerblüte gewesen wäre!
Wie sehr sie doch die Berry-Schwestern vermisste. Und Estral und ihren Vater. Wo war er jetzt? Was tat er gerade? Suchte er nach ihr, oder hielt er sie für tot? Würde sie ihn noch einmal wiedersehen? Nun liefen ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinunter, und sie schluchzte schwer, rang durch den Knebel hindurch nach Luft. Sie war ja so allein! Wie hatte sie nur jemals in so ein Durcheinander geraten können? Sie würde sich nie mehr nach Abenteuern sehnen – sie wollte bloß nach Hause.
Unter anderen Umständen hätte sie die Nacht als angenehm empfunden. Der Mond erhob sich hoch über den Bäumen, und die Sterne funkelten am Himmel. Das Gelächter der Siedler gab ihr ein heimisches Gefühl, machte sie aber nur noch einsamer. Sie holte tief und rasselnd Luft und atmete langsam durch die Nase wieder aus. Eine leichte Bö trocknete ihre Tränen und kündete vom bevorstehenden Sommer. Es wäre ihr leichtgefallen, sich hier glücklich zu fühlen, behaglich, wenn man sie nicht an einen Baum gebunden und geknebelt hätte.
Ich wünschte, ich könnte dir helfen.
Die Worte trieben wie ein Windhauch zu ihr heran. Sie blickte sich hektisch um und versuchte, hinter den Baum zu sehen, doch da war niemand.
Ich …nschte … dir helfen.
Karigan setzte sich gespannt auf.
Ich … du … Gefahr … die Straße. Wir sprachen …fahr.
Karigan grummelte etwas durch den Knebel, unfähig, Antwort zu geben.
… keine Kraft … mehr helfen. Wünschte … könnte …fen.
Karigan wand sich, kämpfte gegen ihre Fesseln an. War das F’ryan Coblebay, der mit ihr Verbindung aufnehmen wollte? Hatte sie den Verstand verloren, dass sie meinte, die Stimme eines Geistes zu hören?
… nicht …fahr … wünschte … helfen.
»Hmpf vahamt fnemt mih diffn fnödn evl aff!«, war alles, was sie mit dem Knebel sagen konnte.
Um sie herum kicherte es plötzlich. Karigan blickte auf, und alle kleinen Kinder der Siedlung starrten sie an, wie man vielleicht ein seltsames Tier im Zoo von Korsa anstarrte. Ganz vorne stand der Sechsjährige, der sie vorhin angesprochen hatte.
»Bist du eine Mörderin?«, fragte ein kleines Mädchen, den Zeigefinger in den Mundwinkel gehakt. »Was ist eine Mörderin? «
»Still, Tosh«, sagte der Sechsjährige wissend. »Sie ist keine Mörderin. Sie hat es mir gesagt.«
»Vielleicht is’ sie ja verrückt«, sagte ein
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