Der magische Stein
Carlotta nicht sagen. In solchen Momenten musste sie einfach auf ihr Glück setzen.
»Bist du okay, Isa?«, fragte sie.
»Ha, ich lebe.«
»Das ist viel wert.«
»Und ich hoffe, dass es so bleibt.«
Darauf gab Carlotta keine Antwort. Sie sagte nur: »Du kannst mich jetzt loslassen, aber bleibe dicht an der Wand.«
»Klar.« Die Stimme hatte zittrig geklungen, und auch die Sprecherin bebte am ganzen Leib.
»Alles klar?«
»Himmel, frage doch nicht so. Ich mache mir fast in die Hose vor Angst. Wenn hier ein Windstoß kommt, sind wir doch weg.«
»Noch habe ich hier keine Bö erlebt«, beruhigte Carlotta ihre Gefährtin.
»Ich will ja nicht mit der Frage drängeln, wie es weitergeht, aber interessieren würde es mich schon.«
»Zunächst müssen wir Zusehen, dass man uns nicht erwischt. Die Vögel würden mit ihren Schnäbeln Hackfleisch aus uns machen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Okay, das sehe ich ein«, sagte Isa. »Für immer will ich aber auch nicht hier bleiben. Der Boden ist mir sicherer.«
»Mir auch. Nur müssen wir dorthin fliegen. Die Strecke ist nicht eben kurz. Wir haben vier Verfolger. Das sind acht Augen, und ich denke, dass die uns sehr schnell entdecken werden. Also bleiben wir erst mal hier auf der Plattform.«
Isa sah ein, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie dagegen sprach. Bisher war sie unter Carlotta’s Schutz noch gut zurechtgekommen, und zu Vogelfutter wollte sie auch nicht werden.
Carlotta sondierte die Lage. Der erste Schrecken war dahin. Sie hatte sich jetzt auf die neue Situation einstellen können. Um das Beste aus ihr zu machen, musste sie die Umgebung zunächst mal sondieren.
Viele Möglichkeiten standen ihnen nicht zur Verfügung, denn Verstecke im eigentlichen Sinne gab es nicht. Der halbrunde Vorsprung war nicht mal eine Schrittlänge breit. Tanzen konnten sie dort nicht, auch nicht sich hektisch bewegen. Es war vor allen Dingen wichtig, dass sie die Ruhe behielten und zunächst mal abwarteten.
Das Vogelmädchen schaute nach vorne. Der Blick fiel nicht ins Freie, sondern gegen eine weitere Felswand, denn vor ihnen ragte der nächste Stein in die Höhe. Aber wenn Carlotta über die Kante hinweg nach unten schaute, dann fiel ihr Blick auf die Kronen der mächtigen Bäume, die auf dem Boden zwischen den Steinen wuchsen. Weiter konnte sie nicht schauen, weil sich dann alles in der Dunkelheit verlor.
Und sonst?
Da war nur der Himmel über ihnen. Dort würden sie gejagt werden, und das wollte das Vogelmädchen auf keinen Fall riskieren. Mit Isa auf dem Rücken war sie auf keinen Fall wendig genug, um den Vögeln zu entkommen. Wenn sie den Kopf zurücklegte und nach oben in den grüngrauen Himmel blickte, war von ihren Verfolgern im Moment zwar nichts zu sehen. Glücklich konnte sie das nicht werden lassen, denn die würden so leicht nicht aufgeben.
Lange warten wollte sie auch nicht, denn jetzt, da sich kein Verfolger zeigte, schien die Lage günstig zu sein. Schnell starten, um am Boden ein Versteck zu finden.
»Ich denke, du kannst wieder auf meinen Rücken klettern, Isa«, sagte Carlotta.
»Und dann?«
»Geht es abwärts.«
»Wieso?«, wollte ihr Schützling wissen.
»Wir suchen uns ein Versteck am Boden. Ich sehe es als die einzige Möglichkeit an.«
»Meinst du?«
»Ja.« Carlotta bewegte ihre Schultern. »Los, Isa, hak’ dich fest. Wir fliegen los.«
Das hatten die beiden vor. Nur wollte es das Schicksal anders. Plötzlich erlebten sie etwas, das sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätten.
Ein hoher Stein, der links von ihnen stand und ihnen einen großen Teil der Sicht nahm, fing an, sich zu verändern. Da tat sich etwas in seinem Innern, was beide nicht begriffen und auch keinen Kommentar abgaben. Sie schauten nur mit offenen Mündern zu, wie der Stein in seinem Innern immer stärker glühte, als wollte er verbrennen.
Die Glut zerstörte das Innere, und sie sorgte auch dafür, dass die Außenhaut nicht mehr hielt. Sie geriet plötzlich ins Flimmern, zugleich ins Schwanken, und sie glühte an ihren Rändern stellenweise auf, als gäbe es dort eine besonders heiße Zone.
Im nächsten Moment war es vorbei.
Der Stein hielt nicht mehr. Das heißt, ihn hielt weder außen noch innen etwas zusammen. Er löste sich tatsächlich vor den Augen der Zuschauerinnen auf und sackte in sich zusammen, ohne dass ein Krachen entstand. Es gab auch keine Steine, die nach unten fielen und mit dumpfen Schlägen auf dem Boden landeten
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