Der magische Wald
Ahnung, daß auch seine Gesundheit langsam dahin ging. Dieses Husten am Morgen, diese Kurzatmigkeit, die ihn in letzter Zeit überkam, wenn er Treppen stieg oder ein Stück laufen mußte. Vielleicht lag es an der Stadt. Er atmete sie Tag und Nacht ein, absorbierte Betonstaub und Smog, konnte förmlich spüren, wie sich sein Blut verdickte und seine Adern enger wurden. Manchmal dachte er, daß wenn er hier fortginge, zurück zu den Bäumen und Gräsern und all die anderen Pflanzen, daß er das Gift der Stadt dann einfach ausspucken konnte und wieder achtzehn sein würde. Das wäre doch was. Aber es gab Schatten unter den Ästen der Bäume, erinnerte er sich, und dort leuchtete nachts nur der Mond. »Die Wolfssonne« hatte Cat ihn genannt. Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich wieder auf das Bett fallen. Er wünschte sich jetzt, daß dieses dumme Mädchen geblieben wäre, um ihn durch die dunklen Stunden zu geleiten, um ihn festzuhalten und bis zum Morgengrauen irgendeinen Unsinn zu erzählen. Es war nicht fair, daß er angenommen hatte, sie hätte ihn bestohlen, dachte er. Sie war süß gewesen, jung und ein bißchen leichtsinnig. Die dunklen Augen waren es gewesen, die ihn eingefangen hatten, die bewirkt hatten, daß seine Nackenhaare sich gesträubt hatten. Eine weitere Verwechslung. Das war nichts Neues. Er war völlig auf ein bestimmtes Aussehen fixiert, auf den Schwung einer Augenbraue, den Farbton von Haaren. Es war zur Gewohnheit geworden. Wie hatte sie geheißen? Egal. Der andere Name war zu deutlich in seinem Kopf. Dieses Gesicht, dieses Grinsen. Cheshire Cat und seine Reise durch das Wunderland. Sie war verschwunden. Er hatte sie zurückgelassen, hatte gesehen, wie ihr Schatten kleiner und kleiner geworden war, während er davontrieb. In seine eigene Welt. Sie hatte ihn durch ein seltsames Land geführt, einen schrecklichen Ort, der sie fast umgebracht hatte, von dem er seitdem träumte. Dieser gräßliche Traum, der ihn zurückbrachte in seine Kindheit, in ein anderes Land. Jesus, er haßte die Dunkelheit, die offenen Plätze. Nur im hellen Trubel der Stadt fühlte er sich sicher, bis heute. Aber es war merkwürdig -und beunruhigend -, daß die Erinnerungen so schnell und deutlich zurückkehrten. Er erinnerte sich an Dinge, die er längst vergessen oder verdrängt geglaubt hatte. Seltsam. Vielleicht lag es an den Dingen, die er gesehen und getan hatte. Dem Töten. Oder vielleicht war es nur eine Erinnerung an Cat. Und da war wieder ihr Gesicht. Er zog noch einmal an der Zigarette. Er hatte Jahre damit verbracht, zu vergessen, zu verneinen, daß es jemals geschehen war (und bei Gott, es hätte genauso gut ein Traum sein können), aber es gab kein Entkommen vor diesem Alptraum. Bruder Nennians Gesicht, bevor er starb. Die Schrecken jenes Tages. Man kann mit der Erinnerung keinen Handel abschließen, dachte er. Sie hält alle Trümpfe in der Hand. Da gibt es nichts zu gewinnen. Er sah auf die Uhr. Fast drei. In knapp zwei Stunden würde es dämmern, und am Morgen mußte er zur Arbeit gehen. Großartige Aussicht. Aber da war noch ein Schluck Whiskey in der Flasche, bemerkte er. Etwas, um seinen Verstand zu betäuben. Er leerte die Flasche in drei Zügen, spürte, wie das feurige Zeug seine Kehle hinunterrann und sich wohlige Wärme in seinem Bauch ausbreitete. Das war besser. Das traf den Punkt. Mit finsterer Miene legte er sich wieder hin. Hatte er es gestern abend wirklich geschafft, oder hatte er versagt -und sie war deshalb vorzeitig aufgebrochen? Er konnte sich verdammt noch mal nicht daran erinnern. Zum Teufel damit. Noch ein namenloses Gesicht und noch eine schlaflose Nacht. Das Heulen von Polizeisirenen vor dem Fenster, das sich dann langsam wieder entfernte. Das Zerbrechen einer Flasche, Lachen und schnelle Schritte. All dies geschieht, dachte er benommen. Es ist alles hier. Er erinnerte sich an kaltes Wasser und an die Stute, die sich wie ein Hund schüttelte. Er erinnerte sich an Cats glänzendes Gesicht, an den Anblick des ersten Morgenlichts über den Wäldern und Hügeln einer anderen Welt. »Wir sind da«, sagte sie. »Wieder zurück.« Er stand auf. Kaltes Wasser stand in seinen Stiefeln undrannseinenRückenhinunter. Er begann zu frösteln, denn sie standen im Schatten einer Baumgruppe, und die Sonne war noch nicht mehr als ein heller Schimmer hinter ihren Wipfeln. Die Kälte der Nacht lag noch über der Flußsenke. Neben ihm schüttelte Fancy sich und überschüttete ihn mit einem
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