Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Überfällen zusammenhängen könnte.«
»Das geht schon klar.« Niklas saß im Auto. Er fuhr besonders langsam, um den Augenblick hinauszuzögern.
»Im Grunde ist es unglaublich, an wie viele Details von diesem Unfall er sich erinnert. Das Ereignis muss auf jeden Fall tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen haben.«
»Der Name«, erinnerte ihn Niklas ungeduldig.
»Der Mann, der sie gefunden hat, hieß Sund. Reinhard Sund. Wohnt wohl immer noch hier. Kennen Sie ihn?«
Endlich hatte er die Bestätigung . Und sie machte Niklas traurig, weil er wusste, dass sie Karianne zerschmettern würde. »Ich bin gerade unterwegs zu ihm.«
37
Niklas warf einen Blick zum Küchenfenster, als er parkte, und meinte einen Schatten hinter der Gardine zu erkennen. Reinhard war definitiv auf dem Weg der Besserung. Normalerweise war Niklas immer in einer sehr aufgeräumten Stimmung, wenn er in einem Fall so kurz vor dem Durchbruch stand, wenn er nach Wochen und Monaten die Befriedigung hatte, einen Verdächtigen mit den Ergebnissen seiner Ermittlung zu konfrontieren. Diesmal fühlte er jedoch nichts als Trauer. Er bezweifelte nicht, dass das alles ausschließlich mit Reinhards Liebe angefangen hatte, dem verzweifelten Wunsch, das Leben seiner Tochter zu retten, koste es, was es wolle. Und es kostete einiges. Erst musste Linea mit dem Leben bezahlen, dann die Frau, die sich als Even Haarstads Mutter herausgestellt hatte. Vielleicht hatte Reinhard schon von dieser Frau gewusst, als er Linea umbrachte, sich erst gegen sie entschieden, weil sie hochschwanger war, und sich stattdessen auf das lebensfrohe junge Mädchen konzentriert. Doch nach seinem Fehlschlag gab es keinen Weg mehr zurück. Karianne brauchte eine Niere, und jede Woche zählte. Vielleicht hing es so zusammen, aber Niklas konnte sich seinen Schwiegervater immer noch nicht als brutalen Mörder vorstellen.
Er klopfte, obwohl er nicht sicher war, ob er das unter normalen Umständen auch gemacht hätte, trat aber ein, bevor ihn die brüchige Stimme dazu auffordern konnte. Reinhard saß in einem Schaukelstuhl im Wohnzimmer auf einem Schaffell, das eher schmutzig grau als weiß war.
»Niklas! So eine Überraschung.« Reinhard hob die Hand und winkte ihn ins Wohnzimmer. Sein Lächeln wirkte unangestrengt und echt.
Er war in einer völlig anderen Verfassung als noch vor ein paar Tagen, als jeder Furz ein Kraftakt gewesen war.
Das Wohnzimmer sah genauso aus, wie Niklas es von seinem ersten Besuch mit Karianne in Erinnerung hatte. Altmodisch und ohne weibliche Einflüsse. Die Bilder waren dieselben – ein magerer Elch, der zufrieden aus einem kleinen Teich schlürfte, während der Sonnenaufgang einen goldenen Schein über die Szenerie breitete. Und Fotos von Karianne. Ungefähr zehn Bilder, von der Taufe bis zur Konfirmation. Er hatte damals schon darauf reagiert, und heute ging es ihm nicht anders. In den meisten Haushalten hängen Kinderfotos an der Wand, aber es gibt eine Grenze. Zu viele Bilder erschlagen. Und viel zu viele lassen auf Besessenheit schließen.
»Heute früher aus der Arbeit gekommen?«
»Ich fühl mich nicht ganz fit.«
»Die Herbstgrippe. Auf die kann man sich jedes Jahr verlassen, wie auf den Regen zum Nationalfeiertag.«
»Eher ein Magenvirus.«
»Das gehört auch dazu.« Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre er Experte für Krankheiten.
»Du hast dich erholt, hab ich gehört.«
»Nicht so sehr, wie ich erst dachte. Ich bin heute ein bisschen übermütig geworden und hab den Abwasch erledigt, der sich seit Tagen hier auftürmt. Im Moment fühle ich mich, als hätte ich versucht, das Horn zu besteigen.«
Das Horn .
»Ich glaube, wir werden hierbleiben, Reinhard. Das heißt, wir haben uns mehr oder weniger entschieden, egal was sich an Jobmöglichkeiten bietet. Für uns bleibt es jetzt bei Bergland.«
»Das ist ja wunderbar.« Sein breites Lächeln ließ die Wangen noch hohler aussehen, wenn das überhaupt noch möglich war. »Habt ihr das so plötzlich entschieden?«
Niklas nickte.
»Was Schöneres könnte ich mir nicht vorstellen. Ich habe Karianne vermisst, das ist sicher kein Geheimnis. Ja, dich auch, Niklas, aber du weißt schon. Die Krankheit hat ein starkes Band geknüpft.«
»Das habe ich gemerkt.«
»Und ihre Stelle …« Er deutete mit einer wedelnden Handbewegung auf den Sessel. »Setz dich, Niklas, bitte setz dich doch.«
Niklas nahm Platz. Wahrscheinlich war der Sessel unter der braungemusterten Decke so gut wie
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