Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
dem Haus hinauf. Sie hatte wieder von der Krankheit erzählt, die ihre Kindheit so geprägt hatte. Er hatte das alles schon einmal gehört, doch jetzt verstand er viel besser. Sie hatte von der Wartezeit vor ihrer Operation erzählt. Dann war ich endlich auf Platz eins der Warteliste , hatte sie gesagt. Und plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Vater, der die Sache selbst in die Hand nahm, ein Vater, der in seiner Verzweiflung zu allem bereit war. Zu absolut allem. Sogar dazu, seiner Tochter den Organspender zu verschaffen, auf den sie wartete. Irgendwie musste er herausgefunden haben, dass Evens Mutter sich als Organspenderin gemeldet hatte, vielleicht hatte er sie auch dahingehend beeinflusst. Konnte es so gewesen sein? Hatte er die Situation ausgenutzt – ein krankes Mädchen, das dem Tod entgegensah, eine Kampagne, um ein paar Leute davon zu überzeugen, sich einen Organspenderausweis zu besorgen – und dann der Unfall? War es so gewesen?
»Das sind natürlich alles nur Spekulationen. Evens Mutter starb und schenkte Ihrer Frau damit ein neues Leben. Ich hätte Ihnen das nicht erzählt, wenn Sie nicht …«
»Ich mache Ihnen überhaupt keine Vorwürfe.« Niklas hob die Hand, als wollte er seinem Besucher signalisieren, dass eine Entschuldigung völlig überflüssig war, doch in Wirklichkeit versuchte er, einen Gedanken festzuhalten. »Diese Kopfverletzung …«
»Mitten auf dem Kopf. Wahrscheinlich flog sie über den Lenker und direkt gegen den Felsen.«
Mitten auf dem Kopf .
»Und sie war noch am Leben, als sie ins Krankenhaus kam?«
»Sie starb, ein paar Stunden nachdem sie von Even entbunden worden war.«
Ein Organ kann nur eine begrenzte Zeit nach Eintreten des Todes transplantiert werden. Es muss schnell gehen. Ideal ist es, wenn der Organspender schon im Krankenhaus ist, bevor der Tod eintrifft. Der perfekte Unfall. Nachdem der erste Versuch misslungen war?
»Wann war das? Wann ist dieser Unfall passiert?«
»Sie meinen genau?«
»Ich meine Datum und Jahr.«
»Am 20. September 1983.«
Eine Woche nach Lineas Verschwinden. Denn Linea war die erste anvisierte Organspenderin gewesen. Doch irgendetwas war schiefgegangen. Wahrscheinlich war sie in einer Verfassung gewesen, die Verdacht geweckt hätte, oder der Schlag hatte irrtümlicherweise doch zum plötzlichen Tod geführt. Hatte es sich so zugetragen?
»Sie haben recht, die Welt ist klein. Alles hängt zusam-
men.«
»Was meinen Sie damit?«
»Dieser Fahrradunfall stinkt zum Himmel.«
»Allerdings.«
»Ich glaube, dass dieses Ereignis mit den Knochenresten zusammenhängt, die wir gefunden haben. Ich glaube, dass dem Mörder mit Evens Mutter das gelang, was ihm bei Linea missglückt war.«
Rino setzte sich auf dem Stuhl zurecht. »Ich befürchte, jetzt kann ich Ihnen nicht ganz folgen.«
»Ich glaube – und ich muss betonen: Ich glaube …«, er hielt inne, um den Mut zusammenzunehmen, den Verdacht in Worte zu fassen, der in ihm aufgekeimt war, »dass es so geplant war – dass die Niere jemandem zugutekommen sollte.«
»Hä?«
Niklas stand auf und ging in der Küche auf und ab. »Ich glaube, dass der Unfall inszeniert wurde, weil sie sich zu einer Organspende bereit erklärt hatte. Wissen Sie, wie viel Prozent der Bevölkerung einen Organspenderausweis hat?«
»Nicht viele.«
»Fast keiner. Statistisch gesehen würde das bedeuten, dass es auf Bergland gar keinen gab, bestenfalls einen. Und diese eine Person stirbt zufällig auf eine Art, die erlaubt, dass ein Organ entnommen werden kann? Außerdem war Karianne damals schon in einer kritischen Phase. Sie brauchte eine neue Niere. Und sie war auf Platz eins der Warteliste.«
»Oh Gott.«
»Können Sie mir einen Gefallen tun?«
»Selbstverständlich.«
»Wenn ich genauer drüber nachdenke, sind es eigentlich zwei. Ich möchte bitte, dass diese Theorie vorerst unter uns bleibt.«
Rino nickte.
»Außerdem möchte ich gerne wissen, wer sie gefunden und ins Krankenhaus gebracht hat.«
»Da braucht es keinen Zusammenhang zu geben.«
»Nein, den braucht es nicht. Aber derjenige, der diesen Unfall inszeniert hat, war auch darauf angewiesen, dass sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus kam. Sehr schnell. Also hat er es entweder selbst getan, oder er hat dafür gesorgt, dass jemand anders sie fand.«
»Ich bin nicht sicher, ob mein pensionierter Arzt mir noch mal die Tür aufmacht. Wahrscheinlich sitzt er gerade zu Hause und windet sich in Gewissensqualen, weil er mir schon so viel
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