Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
gestolpert bist, eine Frau, die so schwer verletzt war, dass man sie nicht mehr retten konnte? Hast du ihr das erzählt, Reinhard?«
»Verdammt, Niklas. Wage es nicht, so etwas anzudeuten.«
»Ich deute nur an, dass dein Wunsch, ihr zu helfen, übermächtig geworden ist. Karianne vergöttert dich, aber auch sie glaubt, dass du ihr bei mehreren Gelegenheiten den Weg freigeräumt hast, manchmal sogar mehr, als sie gewollt hätte. Ich hoffe bei Gott, dass da nicht noch mehr war. Dieser Fahrradunfall stinkt zehn Meter gegen den Wind nach einer Inszenierung, und eben dieser Unfall ist letztlich der Grund dafür, dass Karianne heute lebt und atmet. Ich lebe auch damit, Reinhard. Und dann höre ich, wer diese Frau gefunden hat …«
»Ich schwöre dir, Niklas …«
»Bei Zufällen merke ich grundsätzlich auf. Aber bei Zufällen wie diesem hier bekomme ich das große Zähneklappern.«
Reinhard schnitt eine schmerzliche Grimasse und schloss die Augen. Sein Atem ging schwer.
»Geht’s?«
»Ich muss mich ein bisschen hinlegen.«
Noch immer hatte Niklas seine Zweifel. Reinhard ließ seine Maske immer noch nicht fallen. Nachdem er fast dreißig Jahre lang die Rolle des Wohltäters gespielt und jede Tat damit gerechtfertigt hatte, dass es zum Besten für seine Tochter war, konnte Reinhard nur schwer einsehen, dass im Laufe der Zeit irgendetwas doch aus dem Ruder gelaufen war.
»Könntest du mir wohl ein bisschen Schwarzen Johannisbeersaft holen?« Reinhard wirkte auf einmal zerbrechlich und hilflos.
»Natürlich.«
»Er steht auf der Arbeitsplatte in der Küche. Ich kann gar nicht mehr ohne. Die letzte Flasche ist mir einfach aus der Hand gefallen. Gott sei Dank kaufe ich immer gleich ein paar auf Vorrat.«
Niklas ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt aus der Leitung kam, und goss den Sirup auf, bis er hellrot war.
Reinhard trank gierig und leerte das ganze Glas. »Ich wollte nur das Beste für sie, genauso wie mit den Briefen, von denen sie dir bestimmt mal erzählt hat. Und Solveig Elvenes …« Seine Augen wurden glasig. »Ich saß an Kariannes Bett, wie fast jeden Tag und jede Nacht. Es war derselbe Abend, an dem ich Solveig ins Krankenhaus gefahren hatte. Ich befand mich in einem schrecklichen Gefühlschaos. Bald war klar, dass man ihr Leben nicht mehr retten konnte, und ich war darauf gefasst, dass einer der Ärzte kommen und mich bitten würde, mit ihm auf den Gang zu kommen. Ich war schockiert, als er mir eröffnete, dass die Frau sich als Organspenderin gemeldet hatte und dass ein paar Flure weiter eine frische Spenderniere wartete. Natürlich hieß es, dass sie erst noch Gewebeproben nehmen mussten, dass auch die Blutgruppe stimmen musste, aber ich wusste instinktiv, dass das die Rettung war. Ich war nie ein besonders religiöser Mensch, aber an dem Abend kniete ich in Kariannes Zimmer und dankte dem Gott, an den ich kaum glaubte. Und ich glaube heute noch, dass Gott ihr durch Solveig Elvenes das Leben schenken wollte. Und dieser Gott war nicht ich.«
Sein Handy klingelte, als er die Haustür aufsperrte. Unbekannter Teilnehmer.
»Hier ist Vidén von der Kriminaltechnik. Es geht um die Blutanalyse.«
Niklas hatte über das Krankenhaus Blutproben von Ellen Steen einschicken lassen, die mit der Substanz verglichen werden sollten, die er von den Luchsklauen gekratzt hatte. Er hatte seine private Handynummer angegeben, weil niemand im Büro über seinen Verdacht gegen Reinhard informiert war. Er wollte abwarten, bis die Beweise eindeutig waren.
»Das war ein Volltreffer. Das Blut stammt von derselben Person.«
Er bedankte sich und legte auf, bevor ihm der Mann am anderen Ende der Leitung Fragen zu einem Fall stellen konnte, der allmählich immer mehr Aufmerksamkeit erregte. Die Analyse ließ keinen Raum mehr für Zweifel, und er befürchtete, dass Karianne zusammenbrechen würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Es war ihm ein Rätsel, warum Reinhard die Tierklauen benutzt hatte. Die Kratzer sollten die Polizei sicher auf eine falsche Spur locken, aber das Ganze war reichlich amateurhaft ausgeführt. Symbolische Krallen auf der Haut. In diesem Moment ging ihm die Bedeutung auf. Ellen Steen hatte die Kratzer unter den Rippen, Sara Halvorsen etwas tiefer am Rücken, aber in beiden Fällen saßen sie in der Nierengegend. Waren die Überfälle in Wirklichkeit neue Versuche, Organspender zu beschaffen? War Ellen Steens Komazustand also als Fehlschlag zu werten, ebenso wie Sara Halvorsens Tod? War der
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