Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
beiden so etwas Altmodisches verlieh. Er war losgefahren, um Niklas darüber zu informieren, kam aber genau in dem Moment, als Niklas Hals über Kopf von zu Hause wegfuhr. Er war ihm gefolgt, was gar nicht so einfach war, weil er die Rücklichter immer nur kurz aufleuchten sah. Niklas war gefahren, als ginge es um Leben und Tod. Schließlich hatte Rino sein Auto gefunden, war dem Pfad gefolgt und hatte schließlich auch die Hütte entdeckt. Vom Fenster aus konnte er beobachten, was drinnen vorging, aber nachdem er entdeckt hatte, dass die Tür verschlossen war, musste er zu einem unorthodoxen Schlachtplan greifen. Unbewaffnet wie er war, setzte er ganz auf den Überraschungsmoment, zielte einfach auf Linds Kopf und stieß den Stock durch das geschlossene Fenster. Der Rest war Geschichte.
Even Haarstad gab den Ermittlern erst einen haarsträubenden Einblick in seine Kindheit unter der Gewalt des psychopathischen Lorents und gestand dann unumwunden, dass er für die drei Fälle von Körperverletzung verantwortlich sei. Er behauptete allerdings hartnäckig, dass der erste Fall vor drei Jahren eigentlich ein Einzelfall bleiben sollte. Erst als er erfuhr, dass seine Schwester das Haus vermietet und somit seine Kindheitstraumata zur Besichtigung freigegeben hatte, wurde die Wut in ihm neu entfacht – eine Wut auf alle Väter, die ihre Kinder im Stich ließen.
Wie sich zeigte, hatte Niklas seinen Kollegen mit dem Schraubenschlüssel nicht nur gestreift, sondern ihm ein Loch in den Schädel geschlagen, und nach seiner Verhaftung sprach Lind kein Wort mehr. Anscheinend hatte er sein Sprachvermögen verloren, aber am wahrscheinlichsten war wohl, dass es ihm ganz zweckmäßig vorkam zu schweigen.
Niklas schauderte. Manchmal spürte er immer noch ein stechendes Gefühl in seiner Operationsnarbe. Paradoxerweise hatten die Ärzte seine Wunde wieder öffnen müssen, kaum dass sie verheilt war –, denn knapp zwei Monate nachdem er halb verblutet bei ihnen eingeliefert worden war, wurde er zur Organentnahme wieder in den OP geschoben. Lind hatte seine Hausaufgaben wahrlich gut gemacht.
Karianne stand auf und bürstete sich den Schnee von den Knien. »Das war sie«, sagte sie. »Das war das Mädchen, das damals zu mir sagte, es würde gern in meinem Körper aufwachen. Irgendwie ist sie die ganzen fünfundzwanzig Jahre auch tatsächlich in meinem Körper gewesen.«
Sie starrte auf den Grabstein von Solveig Elvenes, der Frau, die Amund Linds Kind im Leib getragen hatte. Der Frau, die von Lind ermordet worden war. Seine Verzweiflung hatte ihn zu verzweifelten Taten getrieben.
»Jetzt bin ich auch ein bisschen in deinem Körper«, sagte Niklas und drückte ihre Hand.
Epilog
Schon die Empfängnis war ein Übergriff, schmutzig und ekelerregend. Und dieses Gefühl von Verachtung und Ekel übertrug sich auch auf das, was in ihr heranwuchs, als könnte sie keine Liebe zu etwas fühlen, was ihr in hasserfülltem Begehren eingepflanzt worden war.
Ihr Körper hatte sich verändert, wuchs zu einer anderen Person heran, und sie mochte kaum noch ihr eigenes Spiegelbild betrachten. Später, als die Veränderungen für alle sichtbar waren, kamen die Kommentare – vom wohlmeinenden Glückwunsch bis zum kaum verhohlenen Vorwurf, aber sie distanzierte sich vom einen wie vom anderen.
Die Geburt war wie ein Déjà-vu, als ob sie die Empfängnis noch einmal durchleben musste, eine schmerzhafte Angelegenheit, auf die sie keinen Einfluss hatte. Und als man ihr das Kind in die Arme legte, konnte die Wärme dieses kleinen Körpers nur gerade eben das Gefühl der Distanz schmelzen lassen, doch für vorbehaltlose Mutterliebe reichte es nie.
Sie war keine gleichgültige Mutter. Sie sorgte pflichtbewusst dafür, dass das Kind trocken und gut gepflegt war, aber wenn sie es stillte, tat sie es in der traurigen Gewissheit, dass es ihr niemals gelingen würde, es zu lieben, auch wenn es ihr eigen Fleisch und Blut war. Beschämt wich sie dem Blick des Kindes aus und summte stattdessen abwesend vor sich hin.
Als es krabbeln lernte, begrenzte sich ihr Kontakt auf Nahrungsversorgung und Pflege. Ansonsten war der Kleine sich selbst überlassen, die Auswahl an Spielzeug war anständig, und er durfte sich bei seinen Entdeckungsreisen im Haus frei bewegen. Erst als manche scharfe Zungen im Dorf bemerkten, dass der Wortschatz des Kleinen für sein Alter arg begrenzt sei, begann sie mit dem kleinen Jungen zu reden. Wann immer sich eine passende Gelegenheit bot,
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