Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
vielleicht Besitzansprüche erhoben und sich selbst als den Auserwählten betrachtet. Das habe ich nie getan. Ich habe sie selbst wählen und ein Leben völlig ohne meine Einmischung leben lassen. Aber ich war da, ich war immer für sie da, bereit für den Tag, an dem sie mich brauchen würde. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass ich früher immer Ferien in Norwegen gemacht habe, weiter im Süden? Das war mein regelmäßiger Kontakt zu Karianne, denn ich war da, verstehst du, irgendwo in der Menge. Ich habe ihr nie nachspioniert, habe mich nie im Gebüsch versteckt, um sie zu beobachten. Ich wollte nur sehen, ob sie glücklich und zufrieden ist.«
Niklas traute seinen Ohren kaum. »Und wann hast du herausgefunden, dass sie nicht glücklich und zufrieden war? Als du angefangen hast, Korneliussen zu vergiften, damit eine Stelle für mich frei wird?«
»Tja … das begann eigentlich ganz harmlos.« Lind ging wieder zu seiner Kiste. »Mit dieser Heimreportage. Ich lese keine Wochenzeitschriften, das ist nicht so mein Ding, aber über diese Reportage wurde im Dorf natürlich viel geredet, da musste ich mir das Blatt ja kaufen. Da geschah irgendwas mit mir. Nicht, weil ich sie da in deinem Arm sah, ihrem Ehemann, der mit ihr durch dick und dünn geht, dem sie ihr Leben verdankt, der sie anlächelt. Es war eher das, was sie sagte. Über das Leiden und die Unterstützung, mit der sie harte Zeiten überstanden hatte. In dem Moment wusste ich, dass sie mich meinte. Und als ich im Sommer erfuhr, dass sie wieder krank war, gab es im Grunde keinen Weg zurück.« Lind drehte sich zu ihm um. »Hast du meine Briefe gelesen?«
Niklas schüttelte den Kopf, so gut es ging.
»Dann tu das endlich … falls du Glück haben solltest. Wenn du hinterher zu dem Schluss kommst, dass das die Worte
eines kranken Jungen sind … tja, ich war damals wohl eher schon ein junger Mann. Ich war fünf Jahre älter als Karianne und hatte die Schule bereits abgeschlossen. Reinhard hatte ja angeregt, dass die Mitschüler ihr schreiben könnten, und ich hab mich einfach als einer von ihnen ausgegeben. Sie machte es mir manchmal schwer, weil sie irgendwelche Klassenkameraden oder Ereignisse in der Schule kommentierte, aber im Großen und Ganzen klappte es gut. Denn wir waren ausschließlich miteinander beschäftigt. Wir hatten ein starkes Band geknüpft, verstehst du? Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wenn du zu dem Schluss kommst, dass ich damals ein kranker junger Mann war, dann habe ich da immer noch die dreiundfünfzig Briefe, die Karianne mir geschrieben hat. Ja, du hast richtig gehört. Dreiundfünfzig. Das hat sie dir nie erzählt, stimmt’s? Und die Briefe zeigen ganz deutlich, dass wir einander nahestanden. Näher als du deiner Frau jemals gekommen bist.«
Der Schmerz in Schultern und Nacken wurde langsam unerträglich. »Wenn sie jetzt hier wäre, Amund, was meinst du, was sie dann von dir wollen würde?«
»Benutz sie nicht, du feiges Stück. Wenn du dich unbedingt hier rausreden willst, dann benutz sie nicht. Das ist definitiv die falsche Strategie. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie für dich betteln und weinen, darauf willst du doch hinaus, oder? Betteln und weinen, damit ich dich freilasse und der Eingriff unter geordneten Verhältnissen stattfinden kann. Und du würdest selbstverständlich dazu nicken, nur um dann doch zu kneifen, sobald du hier raus bist.«
»Ich habe nicht vor zu kneifen.«
»Ich weiß. Die Chance kriegst du nämlich gar nicht erst.«
»Die Schaufensterpuppen … du hast … die perfekte Schlagtechnik an ihnen geübt.«
Linds Blick verfinsterte sich.
»Ich war bei dir zu Hause, weil ich dachte, du hältst sie dort gefangen.«
»Eigentlich sollte das doch zu meinen Gunsten sprechen, findest du nicht? Dass ich genug Rücksicht besaß, es schonend zu machen – ein einziger Schlag, schmerzfrei wie eine Narkose.«
Ein Schlag. Ellen Steen war mehrfach geschlagen worden. Also hatte er sie nie als Organspenderin in Erwägung gezogen, er hatte sie nur aus dem Weg geräumt, damit Karianne sich hier noch wohler fühlte. »Du bist verrückt.«
»Schon blöd, da hab ich so geübt, und dann hat es doch alles nichts genützt. Die Merkmale deiner Gewebeprobe passten, das war ja fast zu schön, um wahr zu sein.« Lind wurde aufmerksam auf sein Handy, das kurz aufleuchtete, aber kein Geräusch von sich gab. »Brocks«, sagte er, doch seine Stimme verriet nicht die geringste Angst. »Sie sind also unterwegs.«
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