Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen.«
»Es ist unsere einzige Verbindung.«
Sie nickte, wenn auch ohne große Überzeugung.
Er verließ ihr Büro und rannte prompt den falschen Korridor entlang, doch die Teamleiterin selbst rief ihn zurück. »Sie müssen in die andere Richtung. Da geht’s zum Jugendschutz.«
Er bedankte sich höflich, ärgerte sich aber über ihren schulmeisterlichen Ton. Seine Verärgerung hielt auch noch an, als er sich zehn Minuten später in seinem Büro an den Schreibtisch setzte. Er verspürte das dringende Bedürfnis, ein wenig Aggressionen abzubauen, und wählte die Nummer eines passenden Opfers.
Sie nahm beim dritten Klingeln ab. »Helene hier.«
»Ich bin’s. Du hast Joakim ohne mein Einverständnis zu einem Psychologen gebracht.«
Sie seufzte tief, nach dem Motto Nicht schon wieder . »Du nimmst Joakim auch an alle möglichen Orte mit, ohne dir vorher mein Einverständnis einzuholen.«
»Das ist etwas völlig anderes, und das weißt du auch.«
»Joakim hat wirklich Schwierigkeiten.«
»Verdammt, natürlich hat er Schwierigkeiten. Ich hatte auch Schwierigkeiten, als ich dreizehn war, in dem Alter haben alle Jungs Schwierigkeiten.«
»Die Schule schickt uns seit einem Jahr Briefe, weil sie mit Joakim solche Probleme haben, Rino. Wenn wir leugnen, dass er verhaltensauffällig ist, tun wir dem Jungen auch keinen Gefallen.«
»Herrgott noch mal!« Er ballte die Faust und stellte sich vor, wie er damit sämtliche Gegenstände vom Tisch fegte.
»Joakim kann sich nicht viel länger als eine halbe Minute auf irgendetwas konzentrieren. Seine Gedanken sind ständig anderswo, er ist zappelig von morgens bis abends. Siehst du das denn nicht, Rino? Oder willst du es nicht sehen?«
»Verdammt noch mal! Seine Hormone kochen über, natürlich sind seine Gedanken dann woanders. Deswegen muss er noch lange nicht krank sein. Ich habe ab meinem zwölften Lebensjahr Tag und Nacht nur noch an Mädchen gedacht, bis ich mich als Sechzehnjähriger endlich beweisen durfte. Ich war nur dann und wann in der richtigen Welt zu Besuch.«
»Zieh das nicht ins Lächerliche, Rino.«
»Lieber das, als gleich eine Krankheit daraus zu machen.«
»Du musst die Realität sehen. Wenn es so wäre, wie du meinst, dass er nämlich wie alle anderen Dreizehnjährigen ist, dann hätte die Schule wohl kaum reagiert.«
»Die Schule passt eben nicht für jedes Kind gleich gut.«
Sie seufzte demonstrativ, um ihm zu zeigen, dass das Gesprächsniveau indiskutabel für sie war.
»Alles deutet auf ADHS hin«, sagte sie.
»Sagt wer? Irgend so ein Scheißpsychologe hat eine Dreiviertelstunde mit dir geredet und dem Jungen gerade mal Guten Tag gesagt.«
»Es ist nicht der erste. Alle sehen die Anzeichen.«
»Joakim wird mir nicht auf Ritalin gesetzt, verdammt!«
»So weit sind wir noch lange nicht.«
»Allerdings, so weit sind wir wirklich noch lange nicht. Tschüss.« Er warf das Handy auf den Tisch und griff nach den Zeichnungen. Er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie langsam hin und her baumeln. Inzwischen hatte die Sonne seinen Schreibtisch erreicht und damit auch das Bild, das er in der Hand hielt. Es war auf dünnem Papier gezeichnet, so dünn, dass man fast hindurchsehen konnte. Er starrte auf das Blatt, als wollte er die Umgebung durch das Papier erkennen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Er legte die Zeichnungen übereinander, trat ans Fenster und hielt die Blätter gegen das Licht.
Sie waren identisch.
Fast.
Die obere und untere Linie sowie das rechteckige Fenster entsprachen einander bis ins letzte Detail, ebenso sieben der Strichmännchen. Doch die Strichfiguren im Fenster saßen in unterschiedlicher Höhe.
Da fiel es ihm wieder ein. Alle Opfer hatten Kinder. Jeder hatte ein Kind.
»Thomas!«
Im nächsten Moment tauchte sein Kollege auf.
»Alle Opfer hatten doch ein Kind, oder?«
»Laut Einwohnermeldeamt, ja.«
»Hast du das Alter der Kinder?«
»Glaub schon.«
»Kannst du mir die Angaben jetzt gleich besorgen?«
»Gib mir eine Minute.«
Es dauerte ungefähr zwei.
»Mal sehen. Unser Freund der Schankkellner …«
»Fang mit dem ersten Opfer an.«
»Eine vierjährige Tochter.«
»Damals vier oder heute?«
»Äh … damals.«
»Gut. Dann Olaussen.«
»Achtjähriger Sohn. Acht Jahre und vier Monate.«
»Und Ottemo.«
»Sechsjähriger Sohn.«
»Bingo!« Triumphierend schwenkte Rino die Zeichnungen vor seinem Kollegen. »Das Strichmännchen im Fenster, das
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