Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
eher ein Strichkindchen ist, steht für das Kind des Opfers.«
»Wenn es Strichkindchen sind, sind es jedenfalls viele.«
»Aber nur eins im Fenster. Und das ist auch die einzige Figur, die sich in der Größe unterscheidet. Olaussens Sohn ist der Älteste, deswegen ist er am größten. Die Vierjährige ist die kleinste Figur, siehst du?«
Sein Kollege kam näher und musterte blinzelnd die Zeichnungen. »Das Alter muss nicht unbedingt etwas über die Größe eines Kindes aussagen.«
»Die tatsächliche Größe ist ja auch irrelevant. Der Täter wollte ein Zeichen geben, dass sich das Ganze um die Kinder dreht. Wie du siehst, sind die Fenster ganz identisch, damit man den Unterschied in der Größe der Kinder deutlich erkennen kann.«
»Vielleicht.«
»Und noch was. Der Erwachsene hier links. Der steht abgewandt. Wir haben nicht darauf geachtet, weil mehrere von den kleinen Figuren auch abgewandt stehen. Hätten wir mal drauf achten sollen, denn er dreht sich weg von dem Kind im Fenster. Wir haben es, Thomas.«
»Ach ja?«
»Wir haben es mit einem Rächer zu tun, und jetzt wissen wir endlich, wen er rächt.« Rino warf die Zeichnungen auf den Tisch. »Die Kinder«, sagte er und wünschte sich, selbst einen Rachefeldzug zu unternehmen. Falls es ihr gelingen sollte, Joakim runterzudopen.
8
Bergland
Julian Hermansen hatte vorgeschlagen, durch den Wald zu wandern, doch sie bestand darauf, zum Strand zu gehen. Sie weigerte sich hartnäckig, ihre täglichen Gewohnheiten durch die Puppen ruinieren zu lassen. Widerwillig gab er nach, doch immerhin erreichte er, dass sie zu einer weiter südlich gelegenen Bucht gingen.
Der Wind brachte feinen Nieselregen mit, und sie band sich ein Kopftuch um.
»Wollen wir noch kurz abwarten?« Er hatte ihr die Tür aufgemacht, wie immer.
»Das bisschen Regen wird uns schon nicht schaden, oder?«
Sie folgten einem der vielen Trampelpfade, neben denen sich die Schafe die besten Weiden auf dem nährstoffarmen Boden suchten. Da inzwischen auch der letzte kleine Hof aufgegeben hatte, war der Pfad zu einer schmalen Linie verkümmert, und sie gingen beide mit gesenktem Blick, um nicht zu straucheln.
Ungefähr nach der Hälfte des Weges blieb er stehen, und sie meinte erst, dass er sich vergewissern wollte, ob sie auch noch hinter ihm war. Doch er drehte sich nicht um, sondern blieb stehen und spähte zum Strand hinunter. Sie hob den Blick und entdeckte sofort die Gestalt oberhalb der Flutlinie.
»Ada …«
Ihr Mann schien noch bekümmert zu sein, doch sie selbst war nicht mehr so verstört wie am Vortag. Auch wenn das Wesen dort unten völlig unbeweglich dalag und es ganz so aussah, als wäre etwas nicht in Ordnung, wollte sie ihm einfach nur zu Hilfe kommen. »Beeil dich, Julian.«
»Verdammt, dass so was passieren muss …«
»Morgen nehmen wir den Waldweg, versprochen. Aber jetzt beeil dich.«
Die beiden atmeten schwer, als sie endlich auf den festen Sand traten, auf dem ihre schnellen Schritte kaum Spuren hinterließen.
»Ich befürchte, da stimmt was nicht, Ada. Niemand liegt so da …«
Sie hatte gehofft, dass ihr beginnender Altersstar ihr vielleicht einen Streich gespielt hatte, dass das Wesen in Wirklichkeit nur dalag und aufs Meer blickte, doch nun sah sie genau, dass dem nicht so war.
Julian blieb in zwanzig Meter Entfernung stehen. »Sie rührt sich nicht.«
Erst da begriff sie, dass es sich um eine Frau handelte. Sie hatte die Beine angezogen, als hätte sie sich zum Schlafen zusammengerollt. Ada bemerkte das enge Kleid.
Sie drückte die Hand ihres Mannes, als wollte sie ihm sagen, dass sie jetzt stark sein wollte, und dann ging sie die letzten paar Meter. Aus irgendeinem Grund schlich sie sich lautlos an, obwohl sie sich inständig wünschte, die Frau möge aufwachen und sich zu ihr umdrehen.
Die Frau war barfuß, als hätte sie am Strand getanzt, bis sie zusammenbrach. Ihre Zehen und Fersen waren weiß vom getrockneten Sand. Das Kleid war bis über die Knie hochgezogen und entblößte Haut, die diesen Sommer anscheinend nicht viel Sonne gesehen hatte. Das halblange Haar, das auf dem Sand lag wie dünne Tangschlingen, wirkte unnatürlich schwarz. Sie lag auf der Seite, den einen Arm am Körper, den anderen vor sich ausgestreckt.
Ada kniete sich hinter sie und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Keine Reaktion. Sie griff fester zu und schüttelte sie leicht, doch die Frau blieb unbeweglich.
»Ich glaube, sie ist tot.« Sie wandte sich zu Julian
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