Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
raus«, fügte er schnell hinzu und begann die Treppe hinaufzusteigen.
»Rechts«, ertönte es überraschend unangestrengt hinter ihm.
Er klopfte, meinte ein gedämpftes »Ja« zu hören, deutete es als »Herein« und trat ein.
»Olaussen?«
»Bin im Wohnzimmer.« Seine Stimme war immer noch heiser.
Es kam Rino vor, als hätte er eine Zeitkapsel betreten, die ihn dreißig Jahre zurückgeworfen hatte. Die Schiebetüren in der Küche waren braun gestrichen und hingen schief, das Kreismuster auf der orangefarbenen Tapete war wie gemacht für Selbsthypnose. In dem Raum, der wohl das Wohnzimmer darstellen sollte, stand ein kleiner Raumteiler, dessen Farbe an schmutzigen Schnee erinnerte. Kim Olaussen lag auf einem Stressless-Sessel mit vier Fernbedienungen auf dem Schoß. Vom Fernsehbildschirm leuchteten die Teletext-Seiten mit den Lotto- und Totozahlen.
Olaussen machte einen halbherzigen Versuch aufzustehen, doch da er die Hände nicht recht zu Hilfe nehmen konnte, blieb es bei einer schaukelnden Bewegung.
»Bleiben Sie ruhig sitzen.« Rino machte eine einladende Geste, als wäre er der Gastgeber und Olaussen der Besucher.
»Ich habe gehört, Sie sind aus dem Krankenhaus entlassen worden.«
Olaussens Blick zuckte zwischen Rino und dem Bildschirm hin und her. »Ich muss mich ruhig halten. Das kann ich genauso gut zu Hause.«
»Ja, dann doch lieber zu Hause.« Rino ließ demonstrativ den Blick schweifen. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich.«
Der lederne Zweisitzer, der mit allerlei Essensresten gesprenkelt war – zumindest hoffte Rino, dass es sich um Essensreste handelte –, war so durchgesessen, dass er ebenso gut gleich auf dem Boden hätte Platz nehmen können.
»Das Sofa ist ein bisschen durchgesessen.«
»Geht schon in Ordnung.« Er setzte sich mühsam zurecht. »Was sagen die Ärzte?«
Olaussen hob die Hände, als wollte er demonstrieren, weswegen er ins Krankenhaus gekommen war. »Es ist noch zu früh, als dass sie etwas sagen könnten. Sie sind noch ein bisschen taub, aber ich hab schon wieder ganz gut Gefühl in den Fingern.«
»Sehr gut.«
Olaussen nickte stumm.
»Ich habe wegen dieser Worte nachgeforscht … jus talons … das sollte anscheinend eher jus talionis heißen.«
»Kann schon sein«, sagte Olaussen, als er merkte, dass der Ermittler auf eine Bestätigung wartete.
»Das bedeutet ›Recht auf Vergeltung‹.«
Olaussen starrte ihn fragend an.
»Vergeltung kann alles Mögliche sein, aber in diesem Fall bin ich sicher, dass wir es nicht mit der gutartigen Sorte zu tun haben.«
»Ich verstehe das nicht.«
»Unter anderen Umständen hätte ich Sie gebeten, genau nachzudenken, ob in der Arbeit irgendetwas passiert ist – ein Gast, dem Sie kein Bier mehr gegeben haben, oder vielleicht einer, den Sie hochkant rausgeschmissen haben. Aber es geht wahrscheinlich tiefer. Und zwar so tief, dass es mich fast wundert, warum es bei Ihnen nicht klingelt.«
Der Ausdruck in dem birnenförmigen Gesicht verriet ihm, dass es hier nur ganz selten klingelte. Kim Olaussen hatte es sich anscheinend zum Ziel gesetzt, das Werk seines göttlichen Schöpfers zu ruinieren: Sein Teint erinnerte an eine Pizza von gestern, das Haar hing ihm herab wie verwelktes Gras im Spätherbst, und sein Schmerbauch war beachtlich. »Ich habe keine Ahnung, wer oder warum. Ich schwöre.«
Rino war absolut nicht überzeugt. »Die Kette, mit der Sie gefesselt waren, war an einem Keil befestigt. Hat der Täter den an Ort und Stelle in den Stein getrieben?«
Olaussen senkte den Blick, als wäre das eine Erinnerung, die er am wenigsten von allen brauchte. »Ich habe gehört, wie er etwas in den Stein hämmerte, und hab versucht ihn zu fragen, was er da macht, aber er hat mir nicht geantwortet. Ich dachte schon, dass er mich liegend fesselt, so dass ich in der steigenden Flut langsam ertrinke.«
Es war so, wie Rino es sich gedacht hatte. Dieser Schritt war ein Teil der Bestrafung gewesen.
»Wenn dieser Kerl beschließt, noch einen Versuch zu unternehmen, und wenn Sie mir jetzt nicht erzählen, was hinter einer solchen Rachsucht stecken könnte …«
»Verdammt noch mal, ich weiß es nicht, hören Sie mir denn gar nicht zu, Mann? Glauben Sie, ich spiele mit meinem Leben?«
Rino war schwer versucht, mit Ja zu antworten, denn was er hier sah, war der lebende Beweis dafür, doch er verkniff es sich. »Ich glaube, dass Sie lügen. Normalerweise lügen ja die Täter, nicht die Opfer. Ich kapier das einfach nicht.«
»Sie
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