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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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würde der Besuch sie weder freuen noch wundern. Er sah an ihr vorbei in das mit Puppen vollgestellte Wohnzimmer und zählte drei Regale an der Wand, die alle mit kleidchentragenden Porzellanpuppen besetzt waren. Sie folgte seinem Blick und drehte sich halb um.
    »Wir müssen uns unterhalten«, sagte er.
    Mit dem gleichbleibenden neutralen Gesichtsausdruck wandte sie sich um und trottete ins Wohnzimmer. Zögernd folgte er ihr. Das ganze Zimmer war voller Puppen – die einen saßen auf Regalen und Tischen, andere an der Wand. Und in der Mitte, auf einem abgestoßenen Wohnzimmertisch, zählte er ungefähr zehn Schönheiten, die ölig glänzten. Auf dem Boden lag ein Lappen und eine Flasche mit urinfarbenem Inhalt. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff: Sie ölte die Puppen ein, pflegte sie wie eigene Kinder. Er brachte kein Wort heraus.
    Behutsam nahm sie ein paar Puppen von einem Stuhl, um ihm Platz zu machen. Er setzte sich, ohne zu wissen, wie er sich in dieser seltsamen Situation verhalten sollte. Sie selbst ließ sich in einen abgenutzten Stressless-Sessel sinken, klemmte die Hände zwischen die Knie und starrte auf den Boden. Sogar in dieser krummen Haltung waren ihre Schultern noch auffallend breit. Vielleicht gehörte es ja zu ihrer Krankheit, dass manche Gliedmaßen kränklich und schwach blieben, während andere enorm gewachsen waren.
    »Sie haben die Puppen geschickt«, sagte er.
    Sie rührte sich nicht. Ihr Atem ging schwer, als würde das Luftholen sie Kraft kosten. Schließlich legte sie die Hände auf die Armlehne und stand auf. Leicht schwankend ging sie in die Küche, wo er sie in einem Schrank wühlen hörte. Hier mussten zwischen hundert und dreihundert Puppen stehen. Die konnte ihre Mutter unmöglich alle gekauft haben. Wahrscheinlich hatte Heidi einfach weitergesammelt, als sie ihre Pension bekam und sich selbst versorgen konnte. Niklas bemerkte eine männliche Puppe, die die Hände ausgestreckt hatte, als wollte sie jemanden umarmen. Doch ihr Gegenüber fehlte.
    Heidi kam mit einem Bastfloß in der Hand zurück. Er spürte einen unangenehmen Schauder im Nacken, obwohl ihre ganze Erscheinung überhaupt nichts Bedrohliches hatte. Sie blieb vor ihm stehen und reichte ihm das Floß. Als er ihren Blick aufzufangen suchte, wich sie ihm aus.
    »Warum?«, fragte er.
    Mit ruhigen, bedächtigen Bewegungen setzte sie sich wieder in ihren Sessel. Ihm kam ein Gedanke – vielleicht war sie ja stumm? Und vielleicht war sie deswegen immer als zurückgeblieben eingestuft worden? Er blickte auf das Bastfloß, das immer noch auf seinem Schoß lag. An den Seiten ragten lose Enden heraus, wahrscheinlich war sie noch nicht fertig. »Wollten Sie die auch schicken?«
    Sie nickte.
    Eine Puppe für jeden Mord? »Warum?«, wiederholte er. »Was passiert, wenn dieses Floß fertig ist?«
    »Nichts.« Ihre Stimme war nasal und grob.
    »Nichts?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie schicken sie also nicht mehr aufs Meer?«
    Wieder Kopfschütteln.
    »Sie wollten sie schicken, haben es sich dann aber anders überlegt, stimmt’s?«
    »Linea ist gefunden worden.« Wieder klemmte sie die Handflächen zwischen den Knien ein, als wollte sie unerwünschte Reflexe unterdrücken.
    »Sie meinen, Sie wollten sie schicken, aber dann haben Sie es doch nicht getan, weil Linea gefunden wurde?«
    Sie nickte.
    »Und wenn sie nicht gefunden worden wäre, dann hätten Sie weiter Puppen rausgeschickt?«
    Neuerliches Nicken.
    »Das verstehe ich nicht, das müssen Sie mir erklären.«
    »Ich habe niemanden umgebracht.« Endlich sah sie ihn an. Ihre hellen Augen, durch die sich spinnwebartige rote Linien zogen, glänzten von Tränen. »Ich habe nur die Puppen geschickt.«
    »Warum?«
    »Linea.« Sie flüsterte den Namen mit zitternder Stimme, als würde sie etwas Heiliges, Unaussprechliches nennen. Lilly Maries Worte fielen ihm wieder ein: Sie vergötterte ihre kleine Schwester.
    »Warum haben Sie die Puppen gerade jetzt geschickt?«
    »Ich wusste, dass sie bald auftauchen würde.«
    »Sie wussten es?«
    »Ich habe es gespürt.« Sie wand sich auf ihrem Sessel. »Ich wusste nur, dass es bald passieren würde. So war es immer. Ich wusste es, wenn Linea mal wieder alles satthatte, ich wusste es auch, wenn wir gar nicht zusammen waren. Als wir bei Pflegeeltern untergebracht waren, wusste ich, wann sie zu Besuch kommt. Sie brauchte gar nicht anzurufen. Ich wusste es einfach.«
    Obwohl sie ihre Worte halb verschluckte, drückte sie sich

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