Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Pflegefamilien waren, brachte sie ihre Puppe immer mit, wenn sie zu Besuch kam. So konnten die beiden zusammen sein, denn sie gehörten ja zusammen.«
»Sie wissen also nicht, wer den Frauen etwas antun wollte oder warum sie wie diese Puppen gekleidet waren?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Niklas glaubte ihr, auch wenn das bedeutete, dass er alles wieder auf Null stellen musste und weiter denn je von einem Durchbruch entfernt war. Heidi schien sich wieder gefangen zu haben, und er gab ihr den Pelzkragen zurück, den sie fünfundzwanzig Jahre lang versteckt hatte.
»Ich habe versucht herauszufinden, wem der gehörte. Ich bin von Haus zu Haus gezogen.«
Da begann es ihm zu dämmern. »Sie steckten also hinter diesen Einbrüchen?«
»Ich habe nichts gestohlen.«
»Ich weiß. Es will Sie auch keiner dafür bestrafen.«
Sie nahm sich eine Puppe und drückte sie fest an sich.
»Und hinter den Einbrüchen dieses Jahr steckten Sie auch, oder?«
Ihr Schweigen war Bestätigung genug. Heidi, die wusste, dass der Pelzkragen dem Mörder gehörte, war trotz ihrer Gehbehinderung von Haus zu Haus gewandert, um die Jacke zu finden, die zu diesem Kragen gehörte. Und Heidi, die wusste, dass ihre Schwester bald vom Regen freigewaschen werden würde, hatte einen letzten verzweifelten Versuch unternommen, den Täter zu finden. Niklas musterte die Frau – in den Augen vieler Menschen ein jämmerliches Geschöpf, aber wie ihr Bruder trug sie in sich das Größte, was ein Mensch nur haben konnte: unerschütterliche Liebe. Er konnte von beiden noch etwas lernen.
Als er nach Hause kam, hatte Karianne in einer Ecke des Wohnzimmers bereits einen Platz für den Luchs gefunden.
»Na, was sagst du?« Der Jäger musste damals genauso stolz gelächelt haben wie sie jetzt, dachte er.
»Nicht so ganz mein Stil.«
»Er wird dir nie gefallen, hm?« Sie ging ein paar Schritte zurück und betrachtete zufrieden das ausgestopfte Tier. Sein Maul war nur halb offen, als sollte man nicht seine ganze Wildheit sehen. Die Jagdwaffe des Luchses war der blitzschnelle Biss in die Kehle. Ein kraftvoller Biss, der die Beute innerhalb von Sekunden tötete. Doch auch mit den Klauen konnte er einen Hasen oder einen Fuchs im Handumdrehen aufschlitzen. Niklas schauderte bei dem Gedanken und spürte wieder den intensiv stechenden Schmerz im Bauch.
»Geht’s dir gut, Niklas?«
»Ich fühl mich nur ein bisschen mau.«
»Du bist ganz blass. Brütest du irgendwas aus?«
Er schüttelte den Kopf und hasste sich selbst dafür, seine Armseligkeit so offen zu zeigen. Seine Angst war schon zu einem körperlichen Schmerz geworden.
»Ich mach uns eine Tasse Tee.« Sie streichelte ihm im Vorübergehen tröstlich die Schulter, und er wusste, dass sie ihn durchschaute.
Er betrachtete das ausgestopfte Tier, erst mit Ekel, dann wurde sein Unbehagen zu etwas anderem, einem kriechenden, unheilverkündenden Gefühl. Die Klauen, fünf an jeder Tatze, waren länger, als er gedacht hätte. Vor seinem inneren Auge sah er, wie der Arzt das Betttuch beiseitegezogen und die Wunden in der Haut aufgedeckt hatte. Fünf Kratzer, mit je einer Fingerbreite Abstand. Sie waren mehr oder weniger zu dem Schluss gekommen, dass kein Tier sich damit begnügt hätte, einfach nur diese Spur zu hinterlassen, und dass diese Kratzer daher arrangiert sein mussten. Es gab keine großen Raubtiere in den Bergen rund um Bergland, behauptete man, aber ausgestopfte Trophäen gab es sehr wohl.
Er hörte Karianne in der Küche rumoren. Sie summte etwas vor sich hin, vergnügt wie schon lange nicht mehr, obwohl die Krankheit in ihrem Körper wütete. Sie freute sich für ihren Vater. Sie hatten verständlicherweise ein sehr enges Verhältnis. Während ihrer gesamten Kindheit war er ihr Vater und Mutter zugleich gewesen. Und die Krankheit hatte starke Bande zwischen ihnen geknüpft. Vor Reinhards aufopfernder Liebe konnte man nur den Hut ziehen, auch wenn er es in seinem Eifer übertrieben hatte. Reinhard. Wenn er nun wirklich der Versuchung erlegen war, die Dinge wieder in die Hand zu nehmen, und den Kranken gespielt hatte, damit sie in den Norden zogen …? Er schämte sich, diesem Gedanken überhaupt nachzugehen, trotzdem zog er einen verpackten Zahnstocher aus der Tasche. Jedes Mal, wenn er auswärts aß, klaute er sich ein paar. Er hob das ausgestopfte Tier etwas an und fuhr mit dem Zahnstocher über die Innenseite der Krallen. Eine dunkle, trockene Substanz blieb daran hängen. Er wollte die Probe
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