Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
einwandfrei aus. Wieder fiel ihm auf, dass sie unmöglich so zurückgeblieben sein konnte, wie ihre Umgebung behauptete. »Warum haben Sie nichts gesagt?«
»Ich habe Konrad erzählt, dass es bald so weit ist. Deswegen hat er auch mehr gegraben denn je. Aber an der falschen Stelle.«
»Und warum haben Sie der Polizei nichts gesagt?«
»Die hätten mir doch nicht geglaubt.«
Niklas musste einsehen, dass sie recht hatte.
»Linea ist ermordet worden. Ich bin zwar schlecht zu Fuß, aber ich habe auch gesucht, nicht nur Konrad. Eines Tages habe ich etwas gefunden, und da wusste ich Bescheid.«
»Was wussten Sie?«
»Dass das, was ich gefunden hatte, von ihrem Mörder stammte. Ein schwarzes Gefühl. Deswegen wusste ich es.«
Niklas begann den Faden zu verlieren und hegte langsam den Verdacht, dass sie vielleicht einfach in einer Fantasiewelt lebte. Vielleicht musste man alles, was sie sagte, als Bruchstücke einer eingebildeten Wirklichkeit verstehen.
Wieder stand sie auf und verschwand in der Küche. Er rechnete mit einem weiteren Bastfloß, doch sie hielt ihm etwas hin, was auf den ersten Blick wie ein totes Tier aussah, sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Pelzkragen entpuppte.
»Den hab ich im Gras gefunden.« Ihre nasale Aussprache verzerrte die Worte.
»Wo?«
»In der anderen Bucht.«
»Und Sie meinen, das gehörte demjenigen, der Ihre Schwester umgebracht hat?«
Sie nickte.
Niklas wusste kaum mehr, wie er das, was er hier hörte und sah, deuten sollte. Heidi sprach ruhig und mit Bedacht, aber er neigte zu der Auffassung, dass ihr Bericht eine Mischung aus Fakten und Fantasie war.
»Konrad rief an dem Abend an, als sie verschwand, und fragte mich, ob Linea bei mir ist. Ich wohnte damals bei Elvar und Dorthea Ingebrigtsen. Von dort, wo ich wohnte, konnte man die Bucht sehen. Später rief er noch mal an. Und dann noch ein paar Mal im Laufe der Nacht. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sie tot war. Da fing ich auch an zu suchen, aber ich konnte nicht so viel laufen. Zwei Tage später fand ich den Pelz und wusste sofort, dass er Lineas Mörder gehört hatte.« Sie legte die Hand an den Mund und schauderte. »Erst ein paar Tage später wurde mir klar, dass er sie begraben hatte. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und wusste es einfach. Deswegen fing ich wieder an zu suchen, aber ich fand die Stelle nie. Es hatte zwei Tage am Stück geregnet, da waren alle Spuren verwischt.«
»Der Pelz könnte doch auch irgendjemand anderem gehört haben.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
»Sie haben es also gespürt?«
Sie nickte.
»Warum haben Sie Konrad nicht gesagt, dass er hier beginnen sollte, wenn Sie doch sicher waren, dass sie hier irgendwo begraben lag?«
»Ich habe es versucht.« Ihre Stimme drohte wegzukippen. »Er hat mir nicht geglaubt. Das hat er nie. Eines Morgens stand er bei mir vor der Tür und meinte, er könnte hier mit dem Graben anfangen und ich sollte ihm zeigen, wo Linea meiner Meinung nach lag.«
»Und?«, hakte er nach, da die Fortsetzung ausblieb.
»Ich wusste nicht wo. Ich fühlte nur, dass es in Meeresnähe war, irgendwo auf einer Wiese. Er meinte, er hätte sieben Kilometer vor sich und er könnte es sich nicht erlauben, aufs Geratewohl ein bisschen hier und ein bisschen da zu graben.«
Niklas wollte das Gespräch wieder auf die Puppen bringen. »Sie hatten also … so ein Gefühl diesen Sommer, stimmt’s?«
Sie trocknete sich die Tränen mit dem grobschlächtigen Handrücken ab. »Das Meer wäscht die Erde aus, es hat seit damals viele Meter abgetragen. Ich wusste, dass die Zeit gekommen war und dass sie bald freigelegt werden würde. Deswegen schickte ich ihre Puppen mit der Strömung los, damit sie ihr entgegenfuhren. Keiner hat mehr von Linea geredet, nur noch Konrad. Und über den machten sich alle lustig. Ich wollte, dass die Leute von den Puppen reden, dass sie herausfinden, wem sie gehört haben. Und wenn Linea dann wirklich auftauchte, hätten sich alle an sie erinnert.«
Niklas tat sich immer noch schwer damit, das Gehörte zu verarbeiten. »Und die Frauen, die so gekleidet waren wie Ihre Puppen?«
»Das hat alles kaputtgemacht.« Sie schluchzte tief auf. »Plötzlich standen die Puppen für den Tod. Dabei sollten sie doch für was Schönes stehen. Das waren Lineas Puppen.«
»Tawana und Tabo?«
»Wir hatten viele Puppen, aber Tawana und Tabo waren besonders. Jede von uns bekam eine, und Linea und ich spielten jeden Tag mit den beiden. Als wir bei den
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