Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
zur Analyse einschicken, und wenn es nur dazu gut war, seine schlimmste Befürchtung auszuschließen.
33
Es war schon nach elf. Rino saß immer noch bei Torkil Bruun, dem Arzt, der damals Even Haarstad auf die Welt gebracht hatte und der jetzt mit leerem Blick in den Kamin starrte. Gerade hatte er seine lebenslange Schweigepflicht gebrochen, und seine Selbstachtung schien deutlich erschüttert zu sein.
»In solchen Fällen ist man in vielerlei Hinsicht noch stärker an die Schweigepflicht gebunden.« Bruun sah seinen Besucher mit autoritärem Blick an, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass er ein ebenso schlechtes Gewissen haben sollte.
»Weiß Even davon?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Torkil Bruun rutschte unbehaglich in seinem Sessel herum und wirkte auf einmal gar nicht mehr so souverän. »Aber ich habe aufgehört, mich darüber zu wundern, was die Leute alles herauskriegen. Ich wurde oft mit Informationen konfrontiert, von denen ich gedacht hätte, dass sie das Krankenhaus niemals verlassen würden, aber in großen Organisationen gibt es eben immer das ein oder andere schwache Glied.«
»Die Krankenschwestern?«, schlug Rino vor.
»Das haben Sie jetzt gesagt. Ja, vielleicht. Wir Ärzte, die wir am nächsten dran sind, also die Chirurgen oder Geburtshelfer, fühlen die Pflicht der Geheimhaltung wohl stärker. Eine Krankenschwester hat da schon eine größere Distanz, ganz zu schweigen von der Sekretärin in der Schreibstube. Wenn die Schweigepflicht funktionieren soll, müssen sie alle gleichermaßen respektieren.« Torkil Bruun zitterte leicht, als er zum zweiten oder dritten Mal die leere Teetasse zum Mund führte. Seine Moralpredigt entsprang wohl in erster Linie dem Bedürfnis, sich selbst zu rechtfertigen. »Trotzdem bin ich immer noch nicht sicher, ob es richtig war, Ihnen das zu erzählen.«
»Irgendetwas sagt mir, dass es sich als richtig und notwendig herausstellen wird.« Rino hätte das sagen können, um Bruuns Selbstbild wiederaufzubauen, aber er sagte es, weil er es tatsächlich meinte. »Und seine Halbschwester …«
»Was ist mir ihr?«
»Wissen Sie noch, wie sie hieß?«
»Ingeborg irgendwas.« Seine vage Geste zeigte, dass er sich noch nie mit solchen unbedeutenden Kleinigkeiten aufgehalten hatte. »Eine Weile wohnte sie auch dort, obwohl ich das Gefühl habe, sie ist besser davongekommen. Übrigens ist sie heute noch die Eigentümerin des Hauses, habe ich mir sagen lassen.«
Rino fragte nicht näher nach, denn er wusste, dass Bruun Frieden mit seinem Gewissen schließen wollte. Er selbst war immer noch erschüttert über das, was der alte Arzt ihm erzählt hatte.
34
Seine Krämpfe hielten während der gesamten Ermittlungsbesprechung an, und Niklas musste mehrmals kleine Pausen in seinem Bericht von Edmund und Andrea einlegen. Als er schließlich alles erzählt und auch noch seinen Besuch bei Heidi erwähnt hatte, tropfte ihm der Schweiß von der Stirn. Obwohl die anderen der Geschichte gebannt und verwundert gefolgt waren, bemerkte er, wie der eine oder andere rasche Blick getauscht wurde. Es kam nicht besonders gut an, dass er seine Kollegen nicht auf dem Laufenden gehalten hatte.
»Und sie wirkten glaubwürdig auf dich?« Bøe brach das Schweigen.
Wirkten sie glaubwürdig? Konnte er sich dafür verbürgen, dass Lilly Marie ihm die volle Wahrheit erzählt hatte? Genauso wie Heidi? Die äußerliche Erscheinung von Konrads Schwester bestätigte das Bild, das man ihm von ihr gezeichnet hatte, aber sein Eindruck nach ihrem Gespräch war eher der, dass sie bei weitem nicht so einfältig war, wie ihre Umgebung glauben wollte. »Ja«, sagte er. »Außerdem ist es sicher nur eine Formsache, die Bestätigung zu bekommen, dass Lilly Marie Andreas viertes Kind ist.«
»Ich kann mich erinnern, dass ich von der Frau gehört habe, die damals durchs Eis brach, aber ich weiß nicht mehr, wie sie aussah.« Bøe kniff die Augen leicht zusammen, als wollte er zeigen, dass er sie sich gerade vorzustellen versuchte. »Es gingen so einige Gerüchte um. Dass der Mann Alkoholiker war und dass es zu Hause gar nicht gut stand. Das muss nach dem Unfall gewesen sein, und das passt ja bis auf Weiteres auch gut mit deiner Geschichte zusammen, dass die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht wurden.«
»Wenn sich die Geschichte bestätigen lässt – nicht zuletzt das, was Heidi zu sagen hat –, sind wir wieder auf Null.« Brocks setzte eine anklagende Miene auf. Langsam merkte man, wie die
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