Der Makedonier
eine Stunde vor Sonnenaufgang öffnete sich geräuschlos die Tür, und Bardylis trat herein.
»Bist du wach?« flüsterte er. »Gut. Komm mit, wir wollen vor dem Frühstück noch ein bißchen Spazierengehen.
Aber weck sie nicht auf – Kindern soll man ihren Schlaf lassen.«
Er gab Philipp einen pelzgefütterten Umhang, obwohl seiner nur aus Tuch bestand und deutlich Spuren jahrelangen Tragens zeigte.
»Zieh das an, denn der Morgen ist frisch.«
Philipp warf noch einen letzten Blick auf die reglose Gestalt Audatas, deren Gesicht beinahe ganz von dem Bärenfell bedeckt war. Es gab ihm einen Stich des Bedauerns, als er daran dachte, daß sie aufwachen und seinen Platz im Bett leer finden würde.
»Komm, Prinz von Makedonien.« Bardylis hatte Philipp am Ellbogen gefaßt, als wollte er ihn aus dem Zimmer zerren. Eine seltsame Eindringlichkeit lag in seiner Stimme.
Beinahe verstohlen schloß der alte Mann die Schlafzimmertür hinter sich. Philipp bemerkte, daß er seinen Stock dabeihatte.
Auf ihrem gewohnten Spazierweg zum Stadttor und zurück sah Bardylis sich die grauen Steine seiner Hauptstadt an. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen, eine Mischung aus Stolz und Bedauern.
»Ich wurde König der Illyrer, als ich erst siebzehn war«, sagte er, als wäre das eine Erklärung für vieles. »Über sechzig Jahre. Es gibt kaum noch jemanden, der sich an einen anderen König als mich erinnern kann.
Männer werden eines Königs überdrüssig, so wie sie einer Frau überdrüssig werden. Es ist gleichgültig, ob er ein guter König oder ein Schurke ist, wenn er zu lange regiert, sehnen seine Untertanen sich nach einem Nachfolger, als könnte der Wechsel von einem zum anderen die Welt neu erschaffen. Deshalb sammelt Pleuratos schon zu meinen Lebzeiten Gefolgsleute, Männer, deren Treue zu ihm ihn in ihren Herzen bereits zum König macht. Ich habe nichts dagegen, ich verstehe es sogar, denn ich bin alt genug, um etwas amtsmüde zu sein. Aus diesem Grund gewähre ich Pleuratos größere Freiheit, als vernüftig ist.«
»Warum erzählst du mir das?« fragte Philipp. Die Frage überraschte ihn selbst, denn er hatte sie nicht stellen wollen, obwohl er auf die Antwort wirklich neugierig war.
Bardylis sah ihm in die Augen, und sein Lächeln wurde noch ein wenig dünner. Er schien nicht überrascht zu sein.
»Vielleicht, weil du es bereits geahnt hast. Oder vielleicht, weil ich dich davon abhalten will, eines Tages den gleichen Fehler zu machen. Ein König sollte König bleiben, und die Herrschaft seines Nachfolgers sollte nicht beginnen, bevor die Götter es befehlen. Versuch nicht, die Zukunft zu betrügen, Philipp, aber richte dir die Jahre deines Lebens gut ein.«
»Ich werde nie König sein, Urgroßvater.«
»Nein? Dann wird die kleine Audata aber sehr enttäuscht sein.« Er lachte dabei wie bei einem Kinderspiel.
Als sie das Stadttor erreichten, sah Philipp, daß sein Pferd aufgezäumt auf ihn wartete.
»Es ist an der Zeit, daß du zurückkehrst, woher du gekommen bist«, sagte Bardylis wie ein Gastgeber, der zu Tisch bittet. »Ich kann mich für deine Sicherheit hier nicht mehr verbürgen, und dein Leben ist mir auf seltsame Art teuer geworden. Vor einer Stunde wurde ein Reiter vorausgeschickt, der Weg durch den Paß ist also frei. Die Packtasche an deinem Pferd enthält Proviant und eine kleine Börse mit Athener Drachmen, genug für die Reise. Ich kann dir nicht mehr als einen halben Tag Vorsprung geben, denn dann wird man dir sicher Männer nachschicken. Also trödle nicht.
Und wenn du wieder zu Hause bist und anfängst, dich sicher zu fühlen, dann vergiß nicht, daß du der Gefahr nicht entronnen bist, denn die Bestie, die dir nach dem Leben trachtet, mag ihre Krallen bis nach Illyrien ausstrecken, aber ihre Höhle ist in Makedonien.«
Einen Augenblick lang schienen Tränen seine alten Augen zu verschleiern. Er stand da, mit den Händen auf den Schultern seines Urenkels, bereit, ihn zu umarmen, doch dann erblickte er die ersten Strahlen der Morgensonne, die über die östlichen Berge strömten wie Blut. Plötzlich grinste er.
»Ich habe gerade an Pleuratos gedacht – er wird sehr wütend sein, wenn er es herausfindet.«
8
EINEN MANN KANN allein schon der Gedanke an den Tod vorantreiben, bis ihm schier das Herz zerspringt, aber einem Pferd, dem ein Gedanke keine Angst einjagen kann, muß man Futter und Wasser geben, sonst läuft es nicht weiter. So hatte Philipp nicht mehr als dreihundert
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