Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Grüppchens stehen blieb, fing er mehrmals den Ausdruck del poggio auf und entnahm den Kommentaren, dass so die Aufständischen aus dem höher gelegenen Süden der Stadt genannt wurden, die mit den neuesten Launen der Medici nicht einverstanden waren. Die Fraktion der weniger zahlreichen Befürworter der Herrscherfamilie waren offenbar die del piano . Man spekulierte laut darüber, dass Letztere die Hilfe Venedigs anrufen könnten, damit es den Medici beistand. Venedig, das nichts lieber tat, als Florenz zu übervorteilen! Aber diesmal würden die sich wundern, denn mit den del poggio war nicht zu spaßen!
Leonardo hörte nicht weiter zu. Für ihn klang das zu sehr nach dem großspurigen Gerede kleiner Jungen, die ihre Unsicherheit zu überspielen versuchten. Er lief weiter den Arno entlang bis zu dem Punkt, wo die Stadtmauern, die sich diesseits und jenseits in einem weiten Bogen um die Stadt herumzogen, am Fluss zusammentrafen. Dort lag an einer untiefen Stelle auf der Innenseite einer Biegung tatsächlich das gesunkene Marmorschiff.
Ein bisschen enttäuschend, fand Leonardo. Das Gefährt war viel kleiner, als er es sich den Erzählungen nach vorgestellt hatte. Und vom Ufer aus war auch nichts Besonderes daran zu erkennen. Aus dem Rumpf, wo sich eine Planke gelöst hatte, wuchs wie ein Hohn der Natur ein Strauß Schwertlilien hervor.
Es müsste doch möglich sein, das Schiff zu heben, überlegte er. Man könnte Stützbalken in den schlammigen Grund treiben, und mit zwei oder mehr starken Winden an der richtigen Stelle…
Er setzte sich auf eine Bank und griff zu seinem Notizbuch, das er seit einiger Zeit immer und überall an seinem Gürtel bei sich trug. Mit schnellen Strichen zeichnete er eine Konstruktion, mit der das Schiff angehoben und gedreht werden könnte, um es wieder flottzumachen. Da die Ladung es nicht mehr beschwerte, würde es dann gewiss auf der Oberfläche treiben…
Als er an all den kostbaren Marmor dachte, der dort auf dem Grund lag, hörte er auf zu zeichnen. Auch diese Ladung könnte man gewiss bergen, dachte er. Schon Archimedes hatte gezeigt, dass man mit einem genügend großen Hebebaum und einer guten Stützvorrichtung alles heben konnte. Es war eine Konstruktion denkbar, die das eine und andere ermöglichte. Allerdings würde man einige Männer brauchen, die gut schwimmen und tauchen und die notwendigen Leinen befestigen konnten…
»Am Spionieren, junger Mann?«
Erschrocken schaute Leonardo zu dem Mann auf, der ihn angesprochen hatte. Ein großer, grobschlächtiger Kerl, der mit zusammengezogenen Brauen auf ihn herabblickte, die rechte Hand angriffslustig auf dem Heft eines großen Dolchs, der in seinem Gürtel steckte.
Mit einer unerwartet flinken Bewegung riss der Mann ihm sein Skizzenbuch aus der Hand. »Was soll denn das sein? Ein möglicher Zugangsweg für das Natterngezücht aus Venedig?«
»Nein, Herr. Ich habe nur eine Möglichkeit bedacht, wie man dieses Schiff und seine Ladung bergen könnte.«
Der Mann setzte ein argwöhnisches Gesicht auf. »Bist du nicht etwas zu jung, um schon Ingenieur zu sein?«
»Ich bin kein Ingenieur, ich bin Schüler der Malerei bei Andrea del Verrocchio. Mein Vater ist der Notar Ser Piero da Vinci.« Leonardo überwand seine Schüchternheit und gab seiner Neugierde nach: »Darf ich fragen, ob Sie del poggio sind?«
»Ja, das bin ich. Hast du vielleicht etwas dagegen?«
»Mein Vater ist auch nicht sonderlich begeistert von den Plänen der Medici, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Dann ist dein Vater ein gescheiter Mann. Ist er reich? Wir könnten finanzielle Unterstützung bei unserem Kampf gut brauchen.«
»Wird es denn zu einem Aufstand kommen, Herr?«
»Zu viele Fragen für einen Grünschnabel wie dich. Mach lieber, dass du hier wegkommst, nicht alle sind so freundlich wie ich!« Der Mann warf das Notizbuch neben Leonardo auf die Bank.
Leonardo nahm es und erhob sich. »Wie Sie wünschen, Herr«, sagte er gespielt unterwürfig.
Als er sich entfernte, spürte er den Blick des anderen im Rücken, aber er schaute sich wohlweislich nicht noch einmal um.
»In Imola ist es zu Auseinandersetzungen gekommen«, sagte Ser Piero abends. »Wir können nur hoffen, dass das nicht zu uns herüberschwappt.« Er wirkte eher verärgert als besorgt, denn alles, was Ruhe und Ordnung störte, war ihm ein Graus. Seine Klientel kam in erster Linie aus religiösen Kreisen und begab sich für gewöhnlich nicht in die Niederungen von Aufständen
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