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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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und Kriegen.
    Leonardo ging nicht darauf ein. Er hatte auch nichts von seiner Begegnung mit dem del poggio erzählt, weil er es nicht für wichtig hielt. Und er war mit seinen Gedanken schon beim kommenden Tag. Ihm schwante, dass er in ein neues Leben eintreten würde, das mit dem alten nichts mehr zu tun hatte.
    Als er am nächsten Morgen nach einer unruhigen Nacht erwachte, war sein Vater bereits gegangen. Leonardo zog sich an und ging in die Küche.
    »Er hatte einen frühen Termin mit einem Mandanten«, erklärte Francesca. »Ich soll dir sagen, dass mit Verrocchio alles geregelt ist.« Sie sah Leonardo ein wenig mitleidig an. »Dein Vater macht nicht gern viel Aufhebens«, sagte sie überflüssigerweise.
    Leonardo wandte den Blick ab. Francesca hatte große braune Augen, mit denen sie ihn, wenn sie wie jetzt allein waren, auf verwirrende Weise fixieren konnte. Er setzte sich an den Tisch, während sie ihm ein Stück Schwarzbrot abschnitt und einen Becher mit Milch füllte.
    »Ich werde dich vermissen«, sagte sie, als sie den Becher vor ihn hinstellte, und beugte sich so nah zu ihm herunter, dass er ihre Haut riechen konnte. »Du bist ein hübsch anzuschauender junger Mann«, fügte sie hinzu und lächelte. »Schade, dass wir uns nur noch selten sehen werden.«
    Leonardo blickte Francesca nach, als sie sich vom Tisch abwandte. Ihr Verhalten ihm gegenüber machte ihn befangen. Doch in dem Moment erschien Bertolia in der Küche, und die unangenehme Spannung verflüchtigte sich.
    »Ich wollte dir nur noch alles Gute wünschen«, sagte Bertolia und strich ihm kurz und ruppig über den Kopf, wie sie es oft getan hatte, als er noch kleiner gewesen war. Dann warf sie einen Blick in Richtung Francesca, die mit dem Rücken zu ihnen stand und tat, als hörte sie nicht zu. »Wirst du noch an mich denken, wenn du ein großer Künstler geworden bist?«
    »Vielleicht male ich dich noch eines Tages«, erwiderte Leonardo nur halb im Scherz. Außer seinem Onkel Francesco war Bertolia die Einzige, die ihm wirklich fehlen würde. Er versuchte, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen: »Aber die bottega ist kein Gefängnis, du bist noch nicht ganz von mir erlöst.« Obgleich das städtische Gefängnis ganz in der Nähe liegt, dachte er. Er hatte bei seinem Besuch in Verrocchios Werkstatt mit leichtem Schaudern die grimmigen, fensterlosen Mauern bemerkt.
    »Ach, Junge, neue Freunde, Künstler, Kunden…«, Bertolia zuckte die Achseln. »Du wirst uns alle bald vergessen haben.« Und damit ging sie, auf die ihr eigene abrupte Art.
    »Bertolia wird älter«, stellte Francesca fest. »Ich glaube, sie wird nicht mehr lange unter uns sein.«
    Aber Leonardo hörte sie nicht, er war mit seinen Gedanken schon wieder woanders.
    Seinem Gefühl nach lebte er schon jetzt nicht mehr in diesem Haus.

4

    Zu seiner Überraschung hatte Leonardo bei Verrocchio ein Zimmer für sich allein bekommen. Es war zwar sehr klein, aber er brauchte wenigstens nicht mit den anderen Schülern in einem Raum zu schlafen, und, für ihn das Allerwichtigste, er konnte sich zurückziehen, wann immer ihm danach war. Zunächst hatte das die Illusion bei ihm geweckt, dass seinem Vater wohl doch mehr an ihm liege, als er immer gedacht hatte, denn das hatte ihn bestimmt etwas gekostet. Doch sie hatte nur so lange gewährt, bis er sich bewusst machte, dass dieser Luxus für Ser Piero wohl nicht mehr als standesgemäß war. Geizig war er im Übrigen nie gewesen.
    Leonardo hatte erwartet, dass der große Meister selbst ihn unter seine Fittiche nehmen würde, doch zu seiner Enttäuschung wurde er einem älteren Mitarbeiter namens Marco Morano anvertraut. Und fürs Erste bekam er weder einen Zeichenstift noch gar einen Pinsel in die Hand.
    Verrocchio war überhaupt selten im Atelier anwesend. Er arbeitete mit zwei Helfern am Grabmal von Cosimo de’ Medici in der Kirche San Lorenzo, und sobald dieser Auftrag vollendet war, würde er für die Kirche Orsanmichele eine Bronzegruppe mit Christus und dem heiligen Thomas in Angriff nehmen. Trotz der unruhigen Zeiten hatte er weitere Großaufträge in Aussicht, die er, wie Leonardo später erfahren sollte, zum Teil der Vermittlung von Ser Piero verdankte.
    Leonardos Probemonat war im Nu vorüber und mündete sang- und klanglos in einen langfristigen Ausbildungsvertrag. Offenbar wurde hinter seinem Rücken das eine und andere ausgehandelt, ohne dass man ihn mit einbezog.
    Bis auf weiteres sollte er vor allem lernen, die Arbeiten anderer

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