Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
allmählich leid. »Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen«, sagte er und wies ihm die Tür.
Er sah Salaì dennoch mit gemischten Gefühlen gehen. Er hatte ja nicht unrecht…
Wenig später wurde Leonardo nach Florenz bestellt, diesmal nicht von der Signoria, sondern von einem Notar, einem entfernten Verwandten namens Ser Giuliano da Vinci. Leonardos Onkel Francesco war gestorben und hatte ihn zu seinem Alleinerben bestimmt. Doch Leonardos Halbbrüder wollten das Testament anfechten und hatten einen Rechtsstreit gegen ihn angestrengt.
»Es wird schon Mittel und Wege geben, diesen Notar in seine Schranken zu verweisen«, beschwichtigte Melzi, als Leonardo ihm die Sache vortrug. »Aber Sie werden nach Florenz müssen, um der Anhörung beizuwohnen und etwaige Dokumente zu unterzeichnen. Vielleicht sollten Sie den Gouverneur um ein Schreiben an die Signoria bitten. Das könnte in mehrfacher Hinsicht hilfreich sein.«
Leonardo hatte Bedenken. »Kann ich denn den Gouverneur mit derlei behelligen?«
Melzi schmunzelte. »Ich glaube, er würde noch weit mehr für Sie tun!«
Melzi hatte die Reaktion von d’Amboise gut eingeschätzt. Tatsächlich wurde sogar ein Schreiben des französischen Königs aufgesetzt, in dem dieser die Signoria darum ersuchte, zu Gunsten seines unverzichtbaren »Hofmalers und Ingenieurs Meister Leonardo da Vinci« zu intervenieren.
Das wirkte. Trotzdem zog sich der Rechtsstreit noch eine Weile hin, denn Leonardos Halbbrüder ließen nichts unversucht, um ihm das Erbe abspenstig zu machen. Zu guter Letzt kehrte er aber um eine Kalkgrube, ein kleines Haus und eine bescheidene Summe Geldes reicher nach Mailand zurück.
Mit Melzi, den er zu seiner Unterstützung mit nach Florenz genommen hatte, erholte sich Leonardo auf der Rückreise bei einem Spaziergang in der Umgebung ihres Nachtquartiers in Fidenza, am Fuße des Apennin. Es war ein milder Abend, und sie ließen sich auf einem großen Stein nieder, um den von der untergehenden Sonne rotgefärbten Himmel zu bewundern. Direkt über ihnen zeigte sich schon die helle Mondsichel.
»Geist und Sinne sind tausendmal schneller als das schnellste Pferd«, bemerkte Leonardo. »Du schaust zum Mond empor, und nur einen Wimpernschlag später hast du die Sterne am anderen Ende des Firmaments im Blick. Aber welche Entfernung haben Geist und Sinne in diesem Augenblick überbrückt?«
»Das würde ich nicht gern auf dem Papier ausrechnen müssen«, antwortete Melzi nüchtern. »Aber Sie haben zweifellos recht, Geist und Sinne des Menschen sind ein Wunderwerk.«
»Nur die des Menschen? Wer sagt, dass Tiere nicht das gleiche Vermögen haben? Können nicht auch sie den Mond und die Sonne und die Sterne mit einem Blick erfassen?«
»Ich habe noch nicht mit ihnen darüber gesprochen«, erwiderte Melzi scherzhaft.
Aber Leonardo hatte es gar nicht gehört. »Wir können alle Sterne unserer Hemisphäre wahrnehmen, aber werden wir je verstehen, was wir dort sehen? Wozu dann dieses Vermögen?« Sein Blick wanderte zur Mondsichel. »Warum strahlt der auf den Mond fallende Sonnenschein so hell? Ist der Mond mit silbrigem Wasser bedeckt? Und wenn der dunkle Teil des Mondes der Erdschatten ist, wie die Astronomen behaupten, wie kommt es dann, dass wir diesen manchmal doch verschwommen sehen können? Ist von der Erde reflektiertes Licht dafür verantwortlich?« Leonardo lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ellbogen. »Die Astronomen haben keine Antwort auf diese Frage. Wenn wir fliegen könnten, könnten wir unsere Neugierde vielleicht befriedigen.« Er verfiel in dumpfes Brüten. »Warum hat die Natur uns so schrecklich schwer gemacht, dass wir an die Erde gefesselt sind? Das ist so ermüdend! Geist und Sinne können im Nu überallhin, aber unser Körper kann leider nicht folgen. Wenn wir solche überlegenen, nach Gottes Ebenbild geschaffenen Wesen sind, wie immer behauptet wird, warum sind wir dann so ohnmächtig?«
Vorsichtig gab Melzi zu bedenken: »Vielleicht müssen wir erst unser Wissen über die Erde ausbauen, bevor wir den nächsten Schritt tun können?«
Leonardo nickte langsam. »Vielleicht, wenn wir die Zeit dafür bekommen…«
»Wenn wir die Zeit dafür bekommen?«
»Die Erde besteht schon viel länger, als es uns der Klerus glauben machen will, Francesco. Es werden Überreste von Tieren gefunden, die Tausende, ja vielleicht sogar Millionen von Jahren alt sein müssen. Die Sintflut aus der Bibel ist eine einzige große Lüge. Womöglich
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