Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
die Not zu groß wird, lasse ich es dich wissen.«
Als sie gegangen war, schrieb er auf die Rückseite einer der Skizzen, die er von ihr gemacht hatte: Der Akt der fleischlichen Liebe und die daran beteiligten Körperteile sind von großer Hässlichkeit. Die Natur täuscht freilich darüber hinweg, indem sie Gesicht und andere Teile des Körpers mit Schönheit ausstattet, und so wird die Lust nicht durch Ekel erstickt. Im Grunde wird die Lust so lange gebändigt, bis sie sich nicht mehr unterdrücken lässt. Wäre dem nicht so, hätte die Menschheit längst aufgehört zu existieren.
Neben allem anderen war auch Leonardos Interesse an der menschlichen Anatomie wieder aufgelebt. Er suchte Kontakt zu Ärzteschulen und beteiligte sich eifrig, ja geradezu besessen an Leichensektionen, um anschließend detaillierte Zeichnungen anzufertigen. So bildete er zum Beispiel das Herz in den verschiedensten Schnitten ab. Melzi schauderte es beim Anblick dieser Arbeiten, wenn er sie mit den ins Reine geschriebenen Aufzeichnungen Leonardos zusammenfügte, um allmählich so etwas wie einen vollständigen Atlas der Anatomie entstehen zu lassen.
Als wenn es damit noch nicht genug gewesen wäre, widmete sich Leonardo auch erneut einer Operninszenierung sowie der Gestaltung eines großen Triumphzugs. Mit Besorgnis beobachtete Melzi Leonardos besessene Arbeitswut. Es schien fast, als hätte er einen Wettlauf mit der Zeit aufgenommen und wollte noch so viel wie möglich schaffen, bevor es zu spät war.
Bis er eines Tages krank wurde.
Als er am Morgen aufstehen wollte, wurde ihm plötzlich so schwindlig, dass er zittrig aufs Bett zurücksank und sich wieder hinlegte. Er wollte Melzi rufen, bekam aber keinen Ton heraus, als drückte ihm jemand die Kehle zu. Es gelang ihm gerade noch, sich irgendwie auf die Seite zu wälzen und mit dem Arm ziellos über den Nachttisch zu fahren, so dass einige Gegenstände mit großem Getöse zu Boden fielen. Damit war seine Kraft endgültig erschöpft.
Gleich darauf wurde die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen, und mit drei schnellen Schritten sprang jemand an sein Bett.
»Meister da Vinci?« Melzis Stimme klang mehr als erschrocken. »Leonardo?«
Leonardos Geist war weiterhin klar, obwohl ihm sein Körper gänzlich den Dienst zu versagen schien. Und so registrierte er selbst in dieser misslichen Lage, dass Melzi ihn zum ersten Mal beim Vornamen nannte. Er fühlte, wie dessen starke junge Hände ihn beim Nachthemd fassten und mit einem energischen Ruck auf den Rücken drehten. Nun schaute er in das schreckensbleiche Gesicht seines Sekretärs, ohne dabei auch nur mit den Augen blinzeln zu können.
»Renaldo!«, schrie Melzi. Er hatte eigentlich eine sanfte Stimme, aber jetzt gellte sie durchs ganze Haus. »Renaldo! Ins Zimmer des Meisters! Sofia!«
Renaldo, der Gehilfe, kam sofort herbeigerannt, blieb aber im Türrahmen stehen und hielt sich mit beiden Händen daran fest, als drohe er zu stürzen.
»Einen Arzt!«, bellte Melzi. »Lauf!«
In diesem Moment spürte Leonardo, dass wie von fern wieder Leben in seinen Körper strömte, und es gelang ihm, Melzis Hand zu berühren. »Keinen Arzt!«, stieß er heiser hervor.
»Aber Leonardo!«
»Keinen Arzt!«, wiederholte Leonardo jetzt deutlicher.
Er bäumte sich auf, und seine linke Hand, die er nach Melzi ausgestreckt hatte, fing heftig an zu zittern. Derweil blieb sein rechter Arm kraftlos an seiner Seite liegen, als gehöre er gar nicht dazu.
»Leonardo, bitte!«, flehte Melzi.
»Kommt nicht in Frage.« Leonardos Krampf schien vorüber. »Es geht schon wieder besser. Schau.« Es gelang ihm, die linke Hand zur Faust zu ballen, wenn auch mit großer Anstrengung.
»Renaldo, lauf nach dem Doktor, jetzt sofort!«, bellte Melzi. Er drückte Leonardo aufs Lager zurück, als dieser sich aufzurichten versuchte. »Mein Onkel hatte vor einigen Jahren das Gleiche, und er ist jetzt halbseitig gelähmt. Er kann sich nicht einmal mehr allein die Hose hochziehen!«
Letzteres schien Leonardo kurz zur Besinnung zu bringen. Ihm grauste vor dem Gedanken, von anderen abhängig sein zu müssen. Doch gleichzeitig begann es in seinem rechten Arm zu kribbeln, als melde sich auch in ihm das Leben zurück.
Der Arzt ließ eine Weile auf sich warten. Als er endlich kam, war Leonardo schon angezogen und polterte in seinem Zimmer umher.
»Du kommst zu spät, ich bin schon genesen«, sagte er. »Wenn du deinen Patienten Geld abknöpfen willst, musst du schneller
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