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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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Hautfarbe, sie kleiden sich anders, sie essen andere Dinge, und sie sollen auch andere Götter haben. Aber wir werden sie letztlich alle unserer Vorstellung gemäß verbiegen. Notfalls mit Gewalt.«
    »Sind alle Künstler so zynisch?«
    »Alle, die nicht blind für die Wirklichkeit sind, würde ich meinen.«
    »Es gibt aber doch auch Menschen, die das Gute wollen.«
    »Zweifellos, aber sie werden nicht gehört. Falls sie nicht schon zertreten wurden, bevor sie überhaupt etwas sagen konnten.«
    Lisa seufzte tief. »Dich hat der Weltschmerz aber gründlich erwischt!«
    Leonardo setzte sich und starrte ins Leere. »Ich war auch einmal anders.« Aber diese trübsinnigen Phasen hatte ich schon immer, dachte er. Sie schienen sich nur zu verschlimmern.
    »Was hat dich denn so gemacht?«
    Leonardo zog die Schultern hoch. »Was macht einen Menschen zu dem, der er ist?«
    »Hm, ich bin eigentlich ganz zufrieden mit der, die ich bin. Aber einen liebevolleren Mann hätte ich gern.«
    »Ich träume manchmal vom Ende der Welt, von der Apokalypse.«
    Lisa sah Leonardo aufmerksam an. »Kannst du die Menschen wirklich so wenig leiden?«
    Statt zu antworten, sprang Leonardo plötzlich auf. »Meine Manieren! Möchtest du etwas trinken?«
    »Wein, aber ich muss dich warnen: Wenn ich etwas getrunken habe, werde ich liebestoll.«
    »Besser liebestoll als gewalttätig.«
    Leonardo verließ das Atelier und kam gleich darauf mit einem Weinkrug und zwei Römern zurück. Während er Lisa einschenkte, fragte er: »Weiß dein Mann eigentlich, dass du in Mailand bist?«
    »Francesco ist auf Reisen. Ich muss aber morgen weiter.« Lisa nippte von ihrem Wein und machte eine beifällige Miene. »Aus dem königlichen Weinkeller, nehme ich an?«
    »Natürlich. Das ist einer der Vorzüge, wenn man bei Hofe ist.«
    »Kann ich heute Nacht hier schlafen?« Als sie sein Gesicht sah, sagte sie mit halbem Lächeln: »Eine Decke auf dem Fußboden genügt mir schon.«
    »Im Castello sind genügend Gastzimmer. Ich kann…«
    »Ich möchte in deiner Nähe sein. Wenigstens das solltest du mir als Entschädigung für die Strapazen der Reise zugestehen.«
    »Dann erlaube wenigstens, dass ich ein zweites Bett bringen lasse.«
    »Nein, das erlaube ich nicht.«
    Mit leichter Verblüffung stellte Leonardo fest, dass er den Gedanken, Lisa die Nacht über in seinem Zimmer zu haben, gar nicht so unangenehm fand. Vielleicht bin ich zu lange allein gewesen, dachte er. Er war einer dieser Einsiedler, die hin und wieder einen Menschen brauchten, dem sie sagen konnten, wie gern sie allein waren…
    Die Nacht war noch jung, und Leonardo schlief noch nicht, als er spürte, wie Lisa zu ihm ins Bett schlüpfte. Er lag auf der Seite, und sie schmiegte sich an seinen Rücken. Eine kühle Hand legte sich auf seine Brust und wanderte sanft und behutsam abwärts.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte Lisa, als sein Atem stockte, und drückte die Lippen auf seinen Nacken. »Und du brauchst auch gar nichts zu tun, du brauchst dich nicht einmal zu rühren. Du bist gar nicht wach, Leonardo. Du träumst…«
    Als Leonardo am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben ihm leer. Lisa war fort. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er nicht ihren ganzen Besuch geträumt hatte. Auch die sorgsam zusammengefaltete Decke, die in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden lag, überzeugte ihn nicht vom Gegenteil. Hatte sie dort nicht schon immer gelegen?
    Doch als er in sein Atelier trat, waren da das frisch gemalte Augenlid auf der Tafel und der noch nicht ganz verflogene leichte Blumenduft. Und vor allem hatte er Lisas Gesichtszüge mit einem Mal so deutlich vor Augen, als schaute sie ihn aus dem Bild an.
    Er griff zu Palette und Pinsel und begann an der Tafel zu arbeiten, ohne sich anzukleiden, ohne zu essen, ohne Pausen zu machen. Er hörte erst auf, als ihn ein plötzlicher stechender Schmerz im linken Arm dazu zwang.
    Leonardo taumelte zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem Lisa am Tag zuvor gesessen hatte. Es enttäuschte ihn ein wenig, dass auf der Sitzfläche nichts von Lisas Wärme zurückgeblieben war.
    Ihr Bildnis schaute ihn von der Staffelei her an. Noch unvollendet, aber schon mit diesem wissenden Ausdruck, der sich in ihrem rätselhaften Lächeln verdichtete. Als sei sie das erste und einzige Wesen auf dieser Welt, das zumindest teilweise verstand, was in ihm vorging. Und als wolle sie ihm sagen, dass sie das immer für sich behalten werde.

30

    Leonardos

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