Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
geht die Welt also bereits ihrem Ende entgegen.«
»Ich habe in Ihren Notizen darüber gelesen«, sagte Melzi. »Ihre Träume von der Apokalypse… Keine erhebende Lektüre, ehrlich gesagt.«
»Warum habe ich diese Träume? Weil ich in der Bibel von der Apokalypse gelesen habe? Das bezweifle ich. Aber eine andere Antwort habe ich nicht. Und was wird dann sein? Geht die gesamte Erde unter, oder wird nur das Leben ausgelöscht? Oder nur die Menschen? Und fängt dann alles wieder von vorn an? Auf eine bessere Weise, weil die Natur eingesehen hat, dass es ein Fehler war, uns so zu machen, wie wir jetzt sind?«
»Das werden wir nie erfahren, Meister da Vinci.«
»Nein, weil die Zeit unser größter Feind ist. Uns ist nur jeweils ein äußerst kurzer Blick in die Geschichte vergönnt. Vielleicht wäre es besser, wenn wir ohne Sinne geboren würden, dann bräuchten wir unseren Geist nicht mit Fragen zu martern, auf die wir ohnehin keine Antworten erhalten werden!« Leonardo setzte sich wieder auf und massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen linken Arm. »Es wird kühler, wollen wir hineingehen?«
Wahrscheinlich infolge des Gesprächs an diesem Abend hatte Leonardo in der Nacht wieder einen apokalyptischen Alptraum. Im Gegensatz zu den vorherigen Malen ging die Welt diesmal im Wasser unter, in einer Sintflut, gegen die sich die biblische Geschichte geradezu harmlos ausnahm. Turmhohe Wellen wälzten sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit und unvorstellbarer Wucht tosend über die Erde, rissen nicht nur Dörfer und Städte, sondern ganze Gebirge mit sich und zermalmten sie zu Brei. Das Wasser, das Leonardo in seinen vielfältigen Formen und wundersamen Bewegungen so sehr liebte, gebar nun ein kosmisches Ungeheuer, dem die gesamte irdische Natur unter lautem Schreien zum Opfer fiel. Und als es vorüber war und die Meere sich beruhigten, war da nur noch eine silbrige Fläche, die das Licht der Sonne reflektierte und auf andere Welten warf, wo Menschen verwundert aufschauten und den neuen Mond bestaunten, der dort am Himmel schien…
Leonardo erwachte, weil Melzi, eine brennende Kerze in der Hand, ihn sanft an der Schulter rüttelte.
»Sie haben schlecht geträumt, Meister da Vinci. Ich hörte Sie bis nebenan und fürchtete, Sie würden die übrigen Gäste wecken. Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Schluck Wasser?«
»Um Gottes willen, bloß kein Wasser!« Leonardo presste die Augen zu, aber da war ihm, als brächen diese alles zerstörenden Wassermassen erneut brüllend über ihn herein, und er riss die Augen hastig wieder auf. »Ich wünschte, ich würde endlich einmal etwas Liebliches träumen«, sagte er mit rauher Kehle. Ihm war kalt, als hätte er tatsächlich im Wasser gelegen. »Francesco…« Er zögerte, beschämt über sein Verlangen nach Wärme und die Frage, die ihm auf den Lippen brannte. »Würdest du den Rest der Nacht…« Er konnte die Worte nicht aussprechen und schloss erneut die Augen.
Das Licht, das rötlich durch seine Augenlider geschimmert hatte, machte dem Schwarz der Nacht Platz. Er wusste, dass Melzi fort war, obwohl er ihn nicht hatte gehen hören.
Der böse Traum kehrte in dieser Nacht nicht mehr zurück, aber es trat auch nichts Liebliches an seine Stelle. Was blieb, war Leere.
Zurück in Mailand, stürzte sich Leonardo so fanatisch in die Arbeit, dass man meinen konnte, er wolle nur ja nicht an die Dinge des täglichen Lebens denken. Er arbeitete als Einziger in der Werkstatt bis in den späten Abend hinein und stand in aller Herrgottsfrühe auf, um sogleich erneut ans Werk zu gehen. Er befasste sich dabei mit mehreren Dingen gleichzeitig. Je nach Stimmung oder Inspiration arbeitete er an Gemälden und Zeichnungen oder vertiefte sich in seine wissenschaftlichen und technischen Studien.
Zur Fertigstellung seiner Tafel von Leda mit dem Schwan bestellte Leonardo eine üppige junge Kurtisane namens Cremona als Modell ein, die bereitwillig nackt posierte. Als Leonardo sie äußerst großzügig für ihre Dienste entlohnte, sagte Cremona mit ihrem verführerischsten Lächeln: »Für diesen Preis hätten Sie auch noch etwas anderes benutzen dürfen als nur Ihre Augen, Meister da Vinci.«
Er warf einen flüchtigen Blick auf sie, während sie sich wieder anzog. » Dimmi , hast du vielleicht einen jungen Bruder, der genauso schön ist wie du?«
Cremona hielt kurz inne und antwortete ungerührt: »Oh, ich wüsste schon jemanden, der Ihnen weiterhelfen könnte.«
Er nickte. »Wenn
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