Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
sein.«
Der Arzt stellte seine Tasche am Fußende des Bettes ab. »Darf ich Sie bitten, sich kurz hinzulegen? Ich muss Sie untersuchen.«
»Muss? Wer sagt das? Der Papst etwa?«
»Meister da Vinci, bitte!«
»Nur mein linker Arm macht mir noch zu schaffen, aber das tut er schon länger.«
»Sie hatten vermutlich eine Hirnblutung. Ich möchte daher vorsorglich einen Aderlass vornehmen. Eventuell können wir auch eine Schädelbohrung erwägen und…«
»Wirf ihn hinaus«, sagte Leonardo zu Melzi, der händeringend zuschaute. »Oder soll ich es etwa selber tun? Ich lasse mich doch nicht von diesem, diesem…« Er schnappte nach Luft und sank auf einen Stuhl nieder. »Hinaus«, konnte er nur noch einmal schwach hervorstoßen.
»Wie Sie wünschen, Meister da Vinci«, entgegnete der Arzt herablassend und griff ungehalten zu seiner Tasche. »Aber beklagen Sie sich nicht, wenn…«
Leonardo hatte wieder Atem für eine Replik: »Ich werde schon nicht bei dir spuken, wenn ich tot bin, sei unbesorgt!« Er wandte sich an Melzi: »Gib ihm ein Trinkgeld, und bedenke, wir haben wahrscheinlich einem anderen das Leben gerettet, während wir ihn hier aufgehalten haben.«
Als der Arzt gegangen war, fuhr Leonardo fort: »Glaub mir, Ärzte machen mehr Menschen krank als gesund. Sie verstehen viel zu wenig von dem, was sie tun.« Sein Blick wanderte zu Sofia, die mit bangem Gesichtsausdruck an der Tür stand. »Deine Pflicht ruft, Mathurina. Ich höre sie von der Küche bis hierher!« Als sie daraufhin eilig davonrannte, rief er ihr nach: »Speck! Und Eier!«
Nun, da er mit Melzi allein war, sackte er aber buchstäblich auf seinem Stuhl in sich zusammen. »Eine erste Warnung der Natur, dass ich mich mit dem, was ich noch schaffen möchte, beeilen muss…«
»Leonardo, du bist noch nicht mal sechzig!«
Leonardo schaute auf. »Seit wann darfst du mich beim Vornamen nennen?«
»Verzeihung, Meister da Vinci. Das ist mir so herausgerutscht. Ich…«
»Belass es von jetzt an dabei, ich muss nicht ständig daran erinnert werden, dass ich aus Vinci stamme.«
Es trat eine kurze Stille ein, bis Melzi kaum hörbar sagte: »Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
»Betrachte es als Generalprobe für den Ernstfall.«
»Gott bewahre, daran mag ich gar nicht denken.«
»Ich denke auch nicht daran, außer morgens und abends, vor und nach dem Essen und zu Beginn jeder wichtigen Arbeit.« Als eine Reaktion darauf ausblieb, neckte Leonardo: »Hoppla, Junge, wo ist dein Humor geblieben?«
»An deiner Stelle würde ich mich doch lieber wieder hinlegen, und wenn es nur für ein Weilchen ist.«
»Du bist ja schon wie Mathurina – wenn sie sich mal von ihrer besseren Seite zeigt.«
Leonardo folgte aber dennoch Melzis Rat, denn er fühlte sich viel schwächer, als er vorgab. Er schloss die Augen, und sein Atem wurde allmählich ruhiger.
Er fühlte noch, wie Melzi ihn behutsam zudeckte und dann hinaushuschte. Was für ein lieber Junge, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
31
Leonardo saß in einem Korbsessel auf der breiten Terrasse an der Vorderseite der Villa Melzi. Das zwar nicht luxuriöse, aber komfortable Landhaus stand am Ufer der Adda unweit der Ortschaft Vaprio im Osten Mailands und gehörte dem Vater von Francesco Melzi. Es war noch früher Vormittag, aber Leonardo döste. Seit dem plötzlichen Tod von Charles d’Amboise vor einigen Monaten hatte er die Freude an der Arbeit verloren. Und nachdem es rund um Mailand wieder unruhiger geworden war – diesmal rückten der Heiligen Liga angeschlossene eidgenössische Söldner im Kampf um die Vertreibung der französischen Herrscher gegen die Stadt vor –, hatte er Melzis Drängen nachgegeben und war mit seinen wichtigsten Habseligkeiten und seiner Haushälterin hierher umgezogen. Vaprio lag weit genug von Mailand und den von den Eidgenossen bedrohten nördlichen Zufahrtswegen entfernt, um ein sicherer Zufluchtsort sein zu können.
Leonardo hatte seinen Umzug nicht bedauert. Die Landschaft hier mit dem Fluss und dem vielen Grün gefiel ihm ausgezeichnet und erinnerte ihn ein wenig an die Umgebung von Vinci, die er als Kind so geliebt hatte. Das Haus und die Natur darum herum regten ihn freilich eher zur Beobachtung der Tierwelt und zur Reflexion an, als dass er sich dem Geldverdienen widmen mochte. So war er über ein paar Skizzen von idyllischen Flecken an der Adda und einen gelegentlichen Pinselstrich am Porträt von Lisa nicht hinausgekommen. Leonardo hatte
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