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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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Leonardo gereizt.
    »Ja, das habe ich schon bemerkt. Aber von irgendetwas müssen wir leben, Leonardo!«
    »Ich kann die Miete schon noch bezahlen.«
    »Und Essen?«
    »Ich habe beschlossen, kein Fleisch mehr zu essen. Das macht eine Menge aus.«
    »Kein Fleisch mehr? Um zu sparen?«
    »Ich halte es für falsch, dass Tiere getötet werden, damit ich mir den Bauch damit füllen kann.«
    »Da werden sie sich aber freuen.«
    »Der Verzehr von Fleisch erscheint mir immer widernatürlicher.«
    Paolo blickte geradezu angewidert auf die Skizzen, die vor Leonardo auf dem Arbeitstisch lagen. »Vielleicht sollten wir das Flugding endlich bauen, damit du von dieser Obsession erlöst bist.«
    »Das ist ein Wort«, sagte Leonardo lächelnd. »Und zum Lohn für deinen guten Willen und dein Verständnis werde ich noch rasch eine Tafel fertigstellen, die ich bereits bei Verrocchio angefangen habe. Sie wird bestimmt gut verkäuflich sein.«
    Er erhob sich und trat an die hintere Wand der Werkstatt, wo einige kleine und größere begonnene Tafeln lehnten. Nach kurzem Suchen zog er eine davon heraus, kaum einen braccio breit.
    Paolo schaute wenig begeistert, als Leonardo die Tafel auf eine Staffelei stellte. »Schon wieder eine Madonna mit Kind?«
    »Dafür finden sich immer Liebhaber.«
    Paolo betrachtete das Bild aus der Nähe. »Warum so eine hässliche Frau? Ihr Hals ist faltig wie der von einem alten Weib!«
    »Sie ist nicht hässlich, sie ist normal. Was von den meisten Madonnenbildern nicht gesagt werden kann. Verrocchio, Vannucci, di Credi, Botticelli, Pollaiuolo und fünfhundert andere malen Madonnen, wie sie nur in der Phantasie schmachtender Männer existieren, elegant, mit dunklen Mandelaugen, makelloser Haut, schönen, gepflegten Händen…« Leonardo schüttelte den Kopf. »Die Heilige Jungfrau lebte in einer Zeit, da Kummer und Not herrschten, und kurz nach der Niederkunft sehen Frauen ohnehin meist weniger gut aus. Außerdem war in Bethlehem Winter, und sie hatte einen langen Fußmarsch hinter sich. Sie war schließlich die Frau eines Schreiners und nicht die eines Edelmannes!«
    »Sie war die Mutter von Gottes Sohn.«
    Leonardo war erstaunt über den vorwurfsvollen Ton, den Paolo anschlug. »Seit wann bist du so gottesfürchtig?«
    Paolo zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich seit ich mit einem Ketzer unter einem Dach lebe! Und auf Leute, die mich mit aller Macht von etwas zu überzeugen versuchen, reagiere ich eher konträr, das hat man mir schon häufiger vorgeworfen.«
    »Danke für den Hinweis«, sagte Leonardo beifällig. »Bereite bitte Farbe für mich vor, ich mache mich gleich an die Arbeit. Unterdessen kannst du Weidenholz besorgen. Wenn’s geht, kostenlos.«
    Leonardo vollendete nicht nur das Bild von der Madonna mit dem Kind, sondern fertigte auch ein Dutzend neuer Skizzen vor allem von Menschen und Tieren an, die er zusammen mit der Tafel und einigen Arbeiten von Paolo in seiner Werkstatt aufhängte. Das Bild von Magdalena und Adda in der Felsengrotte hängte er freilich nach kurzer Überlegung wieder in sein Schlafzimmer zurück. Es kam für ihn nicht in Frage, dass etwas, mit dem er selbst nicht zufrieden war, für jedermann zur Schau stand. Und verkaufen wollte er das Bild so, wie es war, schon gar nicht.
    »Was hast du nur mit Müttern und Kindern?«, fragte Paolo einmal, als er eine Weile fasziniert zugesehen hatte, wie Leonardo mit schnellen, weit ausholenden Strichen seines Kohlestifts eine Studie von einer Madonna mit Kind und Katze zeichnete. »Und mit Tieren?«
    »Ich liebe Tiere, weil sie ihr Hirn nicht dazu gebrauchen, über Mittel und Wege nachzusinnen, wie sie anderen das Leben schwermachen können«, erwiderte Leonardo. »Deshalb sind sie auch viel schöner, denn in ihren Augen ist weder Hass noch Missgunst noch irgendeine andere Form von Boshaftigkeit. Dass uns der Schöpfer mit Verstand ausgestattet hat, war sein größter Fehler. Er hat es vielleicht gut gemeint, aber es ist gründlich danebengegangen.«
    »Bist du wirklich so misanthropisch, wie du dich gibst?«
    Leonardo legte seinen Kohlestift auf den Tisch, behutsam, da er leicht brechen konnte, und starrte nachdenklich auf sein Werk. »Ich weiß es nicht… Hin und wieder habe ich gerne Gesellschaft – wenn ich sie mir aussuchen kann…«
    »Und trotzdem bist du gegen jedermann höflich?«
    Leonardo schmunzelte kurz. »Man muss nicht gleich unhöflich werden, wenn man jemandem die Meinung sagt. Es ist weitaus befriedigender, wenn man

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