Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
das ruhig und beherrscht tut.«
»Jemanden höflich beleidigen, ist das kein Widerspruch?«
»Ach, Paolo, was ist denn eine Beleidigung? Nichts anderes als eine Wahrheit über sich, die man lieber nicht von anderen hören möchte.«
»Und was ist so besonders an Müttern mit Kind?«
»Dass wir das nicht verstehen können…« Leonardo starrte wieder auf seine Zeichnung. »Frauen wollen unbedingt Kinder und nehmen dafür eine Menge körperlicher und anderer Beschwernisse sowohl vor als auch nach der Geburt in Kauf. Warum?«
»Was weiß ich. Weil sie Kinder lieben?«
»Hm… Es gibt auch Mütter, die ihr Kind verstoßen, wenn es einmal da ist. Wenn Väter das tun, kann man es noch verstehen. Die haben ja nur ihrem Vergnügen gefrönt, und wenn ein Kind dabei herauskommt, ist das eher eine leidige Begleiterscheinung. Aber Frauen, die so viel dafür auf sich genommen haben…« Leonardo fuhr sich durch seinen Lockenschopf. »Weißt du, es gibt zwei Dinge, die wir alle zwangsläufig erdulden müssen, ob wir nun Schweinehirt oder Kaiser sind, und das ist, geboren zu werden und zu sterben. Und für beides sind Frauen verantwortlich. Denn wer ein Kind auf die Welt bringt, weiß, dass es eines Tages sterben muss. Warum machen sie sich darüber nie Gedanken?«
»Wer sagt denn, dass sie sich keine Gedanken darüber machen?«
»Die meisten würden die Finger davon lassen, wenn sie wirklich ernsthaft darüber nachdächten.«
Leicht pikiert bemerkte Paolo dazu: »Seid fruchtbar und mehret euch, das ist ein Auftrag Gottes, Leonardo.«
»Ach, wirklich? Warum lässt er dann so oft die Pest und andere tödliche Krankheiten auf uns los?«
Paolo seufzte. »Manchmal bist du ermüdend«, stellte er fest.
Leonardo nickte. »Denken kann ermüdend sein, das stimmt. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass so wenige es tun.« Er trank den Becher Wein aus, der zwischen seinen Zeichenutensilien auf dem Tisch stand. »Mir ist ganz dumpf im Kopf, ich brauche frische Luft.« Er ging hinaus.
An der Seitenwand des kleinen Stalls neben der Werkstatt lag ein ansehnlicher Stapel Weidenholz, das Paolo herbeigeschafft hatte.
Ja, damit fangen wir jetzt an, dachte Leonardo, während er Vanessas Zaumzeug vom Haken nahm. Die Skizzen für das Segelgefährt waren bis ins kleinste Detail fertig, und jetzt, Ende April, war die schönste Zeit des Jahres für Arbeiten unter freiem Himmel. Darüber hinaus würde sich das Ganze auch dazu nutzen lassen, neue Kunden in seine Werkstatt zu locken. Vorausgesetzt, der erste Test war von Erfolg gekrönt. Denn Leonardo war nicht darauf erpicht, vor aller Augen buchstäblich auf die Nase zu fallen.
Er wollte Vanessa gerade satteln, als in der ganzen Stadt Glockengeläut erklang. Es war Sonntag, das war ihm völlig entgangen. Auch Paolo war sich dessen offenbar nicht bewusst gewesen.
Leonardo besann sich eines anderen, hängte das Zaumzeug wieder an seinen Platz zurück und verließ den Stall Richtung Dom.
Als er inmitten einer großen Zahl von Kirchgängern die Piazza del Duomo erreichte, lief er, in Gedanken versunken, fast auf einen vor ihm gehenden Mann auf. Der Mann war wie viele andere stehen geblieben, weil vom Dom her Menschen auf sie zugerannt kamen. Männer, Frauen und Kinder, die meisten im Sonntagsstaat. Sie schienen in Panik zu sein, als flüchteten sie vor einem Ungeheuer.
»Il Magnifico !«, schrie ein junger Mann. »Lorenzo de’ Medici ist ermordet worden!« Er rannte weiter.
Leonardo dachte unwillkürlich daran, welche Folgen das für ihn persönlich haben konnte. Er beschleunigte jetzt ebenfalls seine Schritte, allerdings gegen den Strom. Jedoch kam er nicht weit, da die nähere Umgebung des Doms von berittenen Soldaten und nervösen Wachtposten abgeriegelt wurde, die die Neugierigen mit gezogenen Waffen auf Distanz hielten oder wegscheuchten.
Leonardo hatte für einen Moment ein Déjà vu. Das alles hatte sehr viel Ähnlichkeit mit jenem Mal, als er sich das Reiterturnier hatte ansehen wollen.
Er entdeckte Lorenzo di Credi, der eilig vom Dom wegstrebte.
»Ein Gemetzel«, sagte er, als er seinerseits Leonardo erblickt hatte, und schaute sichtlich beunruhigt hinter sich. »Während der Messe. Zwei Männer haben Giuliano de’ Medici erstochen!«
»Giuliano? Ich hörte gerade, es sei Lorenzo.«
»Den haben sie auch angegriffen, aber er ist nicht tot. Soweit ich sehen konnte. Er blutete heftig, als man ihn wegführte, aber er konnte noch auf eigenen Beinen gehen. Eine Verschwörung
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