Der Maler und die Lady (German Edition)
unterrichtet.“
Anatole betrachtete den Marmor von allen Seiten. Selbst ein vollkommen unprosaischer Mensch hätte die Feuersglut gespürt. Anatole glaubte, den Brandgeruch einzuatmen. „Wie lange arbeitest du schon als Bildhauerin?“
„Richtig ernsthaft? Seit etwa vier Jahren.“
„Warum um alles in der Welt hast du dann nur ein einziges Mal ausgestellt? Warum vergräbst du diese Schätze hier?“
Er ist ehrlich erzürnt, bemerkte Lara und zog die Brauen hoch. Über sein Naturell hatte sie sich bereits Gedanken gemacht. Dass den Anlass zu diesem Temperamentsausbruch ausgerechnet eine ihrer Arbeiten bot, hatte sie nicht erwartet. „Im Frühjahr findet die zweite Ausstellung statt“, erklärte sie gelassen. „Charles Larson macht sie.“ Sie zuckte plötzlich unbehaglich mit den Schultern. „Im Grunde genommen hat man mir die erste Ausstellung geradezu aufgezwungen. Ich war damals noch nicht so weit.“
„Das ist lächerlich.“ Anatole hob die Marmorskulptur hoch, als sähe er sie zum ersten Mal. „Absolut lächerlich.“
Warum überkam sie das Gefühl, sich ausgeliefert zu haben, nur weil Anatole eine ihrer Arbeiten in der Hand hielt? Lara wandte sich ab. „Ich war damals noch nicht so weit“, wiederholte sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, warum sie Anatole Tatsachen offenbarte, die sie bisher noch niemandem gegenüber geäußert hatte. „Ich musste nur einfach sicher sein, verstehst du? Es wird immer Leute geben, die behaupten, ich sei im Fahrwasser meines Vaters geschwommen. Damit muss man rechnen.“ Sie atmete hörbar aus. „Ich ganz allein musste überzeugt sein. Ich musste wissen, dass es nicht so ist.“
Feinfühligkeit, Sanftmut, Verwundbarkeit. Bei ihr hätte er diese Eigenschaften nicht vermutet. Ihre Arbeit lieferte den Beweis, und in ihrer Stimme hatte er sie ebenfalls erkannt. Es beeindruckte ihn ebenso wie ihre Leidenschaft. „Jetzt weißt du es.“
Sie wandte den Kopf und reckte das Kinn. „Ja, jetzt weiß ich es.“ Ein eigenartiges Lächeln lag um ihre Lippen, als sie auf ihn zutrat und ihm die Skulptur aus der Hand nahm. „Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Papa.“ Sie schaute zu ihm hoch, und der Blick ihrer Augen war gelassen, sanft und neugierig. „Ich frage mich, warum ich es gerade dir erzähle.“
Anatole strich ihr über das Haar. Diesen Wunsch hegte er schon den ganzen Morgen, seit er sie wie vom Sonnenlicht gebadet vor dem Gemälde hatte stehen sehen. „Es macht mich glücklich, dass ich es war.“
Lara trat zurück. Sie konnte die rasch aufkeimende, überwältigendeSehnsucht nicht leugnen. Vorsicht war angezeigt. „Ich werde darüber nachdenken. Damit ist der erste Teil der Führung beendet.“ Sie stellte die Plastik weg und lächelte ungezwungen. „Kommentare und Fragen sind willkommen.“
Anatole hatte an Laras Oberfläche gekratzt, und das war ihr gar nicht recht. Er konnte es verstehen. „Euer Haus … ist überwältigend. Zu schade, dass es keinen Wassergraben und auch keinen Drachen gibt“, fügte er hinzu. Laras Lächeln verwandelte sich in ein breites, spitzbübisches Grinsen.
„Wenn du einmal bei Tisch das Gemüse auf deinem Teller übrig lässt, dann wirst du schon sehen, wie schnell aus unserer Haushälterin Tulip ein Drachen wird. Und was den Wassergraben angeht …“ Entschuldigend zuckte sie die Schultern. Da kam ihr ein Gedanke. „Herrje, wie konnte ich das vergessen?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, packte sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich zurück in die Halle. „Es gibt zwar keinen Wassergraben“, erklärte sie und steuerte direkt auf den Kamin zu. „Aber dafür gibt es Geheimgänge.“
„Das hätte ich mir denken können.“
„Es ist eine ganze Weile her, seit ich …“ Sie hielt inne und murmelte etwas vor sich hin, während sie suchend an dem geschnitzten Kaminsims herumfingerte. „Es muss eine von diesen Blumen hier sein … es ist ein Knopf, aber man muss ihn erst einmal finden.“ Irritiert warf sie den Pferdeschwanz über die Schulter. Anatole beobachtete sie, wie sie mit schmalen, eleganten Fingern die Rosetten abtastete und hier und da drückte. Ihre Fingernägel waren kurz, abgerundet und unlackiert. Es hätten die Hände eines Schulmädchens, einer Nonne sein können. Und doch war die sexuelle Vitalität unverkennbar. „Er muss hier sein, aber ich kann ihn einfach … Voila, da ist er!“ Zufrieden trat Lara einen Schritt zurück, als sich ein Teil der
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